Hilfe! – «Selbst ist die Frau’ war gestern
Nur weil wir etwas alleine machen KÖNNEN, heisst das nicht, dass wir es auch alleine machen MÜSSEN. Ein Aufruf, mehr um Hilfe zu bitten.
«Sälber» soll eines meiner ersten Wörter gewesen sein. Sälber mache, sälber azieh, sälber säge. Das Taschengeld selber zu verdienen, war für mich ein Spass: Fröhlich zwang ich den Gästen meiner Eltern «Zirkusvorstellungen» in unserem Wohnzimmer auf und hielt ihnen strahlend mein Kässeli unter die Nase.
Mit sechs Jahren passte ich Friedhofsbesucher mit selbstgepflückten Blumensträussen für 2 Franken beim Eingang ab. Auch später im Leben empfand ich immer Freude, etwas alleine zu meistern, und es war keine grosse Überraschung für mein Umfeld, als ich mich irgendwann für die Selbstständigkeit entschied.
Du brauchst mich nicht
Leider konnte ich mit meinem Do-it-Myself-Talent bei den Männern nie punkten. Während meine beste Freundin – eine liebenswerte Lämpechatz – stets einen edlen Ritter fand, der sie aus ihrem chaotischen Dasein retten wollte, wurden die Fähigkeiten, ein IKEA Regal in Rekordzeit selber aufzustellen, meine Ausgaben im Griff zu haben oder mich in einer fremden Stadt sofort zu orientieren, eher mit Argwohn quittiert.
«Ich habe das Gefühl, du brauchst mich gar nicht», habe ich nicht nur einmal gehört. Schlussendlich lernte ich ihn doch noch kennen: den Mann, der mich schätzt, so wie ich bin.
Als ein paar Jahre später unser erstes Kind das Licht des Kreissaals erblickte, bekam ein kleines Wort, das ich bisher kaum benutzt hatte, eine ganz neue Dimension:
HILFE !
Hatte ich noch im neunten Monat unseren Umzug in eine grössere Wohnung orchestriert und eigenhändig ein Riesengemälde mit der Bohrmaschine an die Wand gehängt, so brauchte es keine 24 Stunden, bis ein 4 kg schweres kleines Wesen meine Persönlichkeit grundlegend umkrempelte.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Ich brauche Dich
Von nun an war ich dankbar für jede Hilfe, die ich kriegen konnte: Der Nachtschwester, die mir das brüllende Würmli in der zweiten Nacht abnahm, damit ich auch mal ein paar Stunden schlafen konnte, meinem Mann, der sich solidarisch durch die Hälfte der 12 Windeln pro Tag durchkämpfte und dem Pizzaservice, der, naja, einfach seinen Job machte. Danke. Merci. Grazie. Thank you.
Trotzdem. Als sich 18 Monate später Schoppen und Windeln schlagartig verdoppelten, sah ich durch den Schleier der latenten Überforderung bald nicht mehr, wie ich berufstätig bleiben konnte.
Die Krux der Selbständigkeit ist – wie der Name erahnen lässt – dass man eben auch vieles selber machen muss.
Selbst und ständig
Wenn ich für eine Moderation vor 4000 Leuten gebucht bin und es mir an diesem Datum hundsmiserabel geht, so kann ich den Job niemandem übergeben. Ich habe mir schon eine Spritze gegen Hexenschuss eine Stunde vor Auftritt setzen lassen, habe mit Fieber, Brechreiz und Bindehautentzündung moderiert. Augen zu und durch.
Wenn aber eines der Kinder krank wird, bricht bei uns Panik aus. Mein Mann kann eher mal zu Hause bleiben, aber mehrere Tage liegen nicht drin. Tagesmami? Die will keine kranken Kinder. Krippe? Dito. Babysitter? No way. Nanny? Nicht unser Ding.
Die einzige Rettung heisst Grosseltern, oder in unserem Familienjargon: Omapas. Ohne sie wäre ich als Working Mom bis heute aufgeschmissen. Und ich muss an dieser Stelle sagen: Mein Liebster, du bist toll. Aber dass ich mit dir auch noch solche Schwiegereltern gekriegt habe, macht dich grossartig.
Die Omapas
Omama Tina zieht bei uns ein, wenn ich mal ins Ausland muss. Sie bastelt mit den Kindern, gärtnert, macht Velotouren, geht in die Badi. Ich möchte wirklich nicht in einem sportlichen Wettkampf gegen sie antreten müssen.
Opapa Willi liest den Mädchen stundenlang vor. Er hat ihnen sogar ein eigenes Buch geschrieben und illustriert.
Grossmami Ruth würde jeden ihrer Arzttermine absagen, um die Mädchen zu hüten.
Grand-Papa Alfred reist monatlich aus der Westschweiz an, nie ohne «une petite surprise» mitzubringen.
Ich kann es ihnen gar nicht genug sagen: Ihr seid die Grössten, meine Helden, und ich danke euch von ganzem Herzen.
Natürlich kann ich mein «sälber mache» trotzdem nicht ganz abstreifen. Auch letzten Montag dachte ich, dass ich den Tag perfekt durchgeplant und im Griff hätte:
08h30 losfahren, nachdem die Kinder im Kindergarten & Spielgruppe sind
09h30 CEO für einen Live-Auftritt coachen
12h00 Kinder abholen und zur Tagesmutter bringen
13h30 TV-Werbespot im Tonstudio sprechen
15h30 Skype Meeting für eine Moderation in Johannesburg
16h00 Drehtermine für eine TV-Reportage organisieren
16h30 Rechnungen schreiben und zahlen
17h15 Einkaufen für den Znacht
18h00 Kinder bei der Tagesmutter abholen
18h45 Kochen und Essen
20h00 Kinder ins Bett bringen
21h00 Moderation für übermorgen vorbereiten (oder doch eher Netflix schauen?)
Geht doch! Dummerweise ist die Grosse genau an diesem Tag mit hohem Fieber aufgewacht. Und ich wäre extrem blöd dagestanden, hätte meine Mutter nicht gesagt: «Du kannst mir beide Mädchen bringen.»
Es gibt Mütter in meinem Freundeskreis, die nicht so viel Unterstützung bekommen. Sie geben täglich ihr Bestes und ich zolle ihnen meinen höchsten Respekt. Gewisse haben aber auch sehr hohe Ansprüche an sich selbst und würden sich lieber die Zunge abbeissen, anstatt ihren Freunden und Familie zu sagen:
Ich bin am Anschlag. Bitte helft mir.
Und da würde ich gerne – wenn ich darf – allen Eltern ans Herz legen: Lasst Hilfe zu. Es ist nämlich nicht nur eine grosse Erleichterung, nicht alles selbst zu machen, es ist auch schön, gebraucht zu werden.
Das sagen zumindest die Omapas.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 10. Juli 2017 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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