«Nicht kratzen!» – Neurodermitis im Familienalltag
Neurodermitis ist weit mehr als juckende Haut und betrifft nicht nur das erkrankte Kind, sondern hat Auswirkungen auf die ganze Familie. Ein Erfahrungsbericht.
Der Familienalltag per se ist ja schon streng genug… Mit einem von einer chronischen Erkrankung betroffenen Kind kommen zusätzliche Belastungen hinzu. Unsere jüngere Tochter leidet an Neurodermitis, Pollenallergie und allergischem Asthma.
Für unseren Familienalltag bedeutet das: akuter Schlafmangel, Ängste und Sorgen, Wut und Frust, grosse Verzweiflung und Hilflosigkeit, unendlicher Stress, sich üben in Geduld und Gelassenheit, ständiges Anpassen an neue Situationen und immer und immer wieder die Ermahnung: «Nicht kratzen!»
Neurodermitis ist nicht gleich Neurodermitis. Es gibt verschiedene Ausprägungen.
Bei unserem Kratze-Kind zeigten sich bereits im Babyalter erste Symptome. Die Haut war sehr empfindlich, trocken und sensibel, die Nächte oft sehr unruhig und der Juckreiz kaum zu stillen.
Durch die Neurodermitis, die Pollenallergie und das allergische Asthma ist unsere achtjährige Tochter über das ganze Jahr hinweg verschiedenen Triggerfaktoren ausgesetzt, welche ihr Hautbild beeinflussen.
Von aussen ist ihr grosses Leiden nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Die betroffenen Hautstellen sind nicht immer sichtbar, unser Kind liegt nicht krank im Bett und die Schmerzen und der Juckreiz sind nicht konstant, sondern verlaufen in Schüben. Zudem ist sie mittlerweile sehr gut im «verborgenen Kratzen».
Ungeübte Augen merken kaum, dass sie sich ständig kratzt.
In guten Zeiten hat Neurodermitis – dank der täglichen Basispflege der Haut – wenig Einfluss auf unser Leben. Doch während eines Schubes wird unsere ganze Familie durchgeschüttelt und aus der Bahn geworfen. Konkret heisst das: Während eines Schubes nimmt die Krankheit überhand.
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Die Neurodermitis bestimmt den Takt unseres Alltags und dominiert unser ganzes Leben.
Der Juckreiz raubt unserer Tochter den Schlaf und treibt sie an den Rand des Wahnsinns. Mit allen Mitteln versuchen wir verzweifelt, ihr Leiden zu lindern. Nachts werden wir mehrmals wach von ihrem Rufen und Weinen. Wir kühlen und pflegen die Hautstellen und versuchen, sie zu beruhigen und zu trösten. Ihre Haut juckt dann so heftig, dass sie sich blutig kratzt.
Sind die betroffenen Hautstellen erst einmal wund gescheuert, wird die Hautpflege sehr anspruchsvoll. Die normale Basispflege (tägliches Duschen und Eincremen) reicht dann nicht mehr aus. Es kommen starke Schmerzen und Brennen hinzu.
Der unerträgliche Juckreiz macht aus unserer sonst so liebenswürdigen Tochter einen fauchenden und übellaunigen Drachen.
Sie ist dann gereizt und dünnhäutig. Sie verweigert die Basispflege und wird körperlich und verbal aggressiv und streitlustig. Der Schlafmangel befeuert das Ganze und ist Gift für unsere Nervenkostüme. Der Umgangston in unserer Familie ist gereizt, wir werden schnell laut und banale Alltagssituationen weiten sich zu Streitereien aus.
Während eines akuten Schubs sind alle unsere Kräfte und unsere volle Aufmerksamkeit beim Kratze-Kind. Dadurch steht unser Nicht-Kratze-Kind im Schatten, fühlt sich benachteiligt, nicht beachtet und weniger geliebt. Dies wiederum verstärkt bei uns Eltern das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, zu verzweifeln und den Familienalltag nicht mehr bewältigen zu können.
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Neurodermitis wirkt sich während eines Schubs nicht nur auf die Familie aus, sondern aufs gesamte Umfeld.
Immer wieder können wir Eltern unserer Arbeit nicht im geordneten Rahmen nachgehen und unser Kratze-Kind fehlt öfters in der Schule oder bei den Hobbys.
In der Schule zeigen sich Müdigkeit, grosse Konzentrationsschwierigkeiten und Leistungseinbrüche. Unsere Tochter kann dem Unterricht nicht über längere Zeit folgen. Spielnachmittage bei Freunden mit Haustieren oder während des Pollenflugs müssen wir einschränken oder vertagen, Übernachtungen bei Grosseltern sind nicht immer möglich, an Kindergeburtstagsfesten kann sie je nach Gesundheitszustand nicht teilnehmen.
Alle diese kleinen Freuden des Alltags fallen dann weg. Die Verzweiflung und die Wut verstärken sich noch mehr.
Gerade diese Aktivitäten, welche dieser kleinen Kinderseele so guttun würden, müssen wir einschränken.
Alles nur eine Phase. Dieser Satz hängt bei uns als grosses Poster in der Küche. Im Wissen, dass alles stetige Veränderung ist, dass Neurodermitis in Schüben verläuft, dass nach dem stärksten Regen irgendwann wieder die Sonne scheint, versuchen wir uns in diesem Strudel über Wasser zu halten und uns in Geduld und Gelassenheit zu üben.
Wir bündeln unsere Kräfte, um alles unter einen Hut zu bringen und allen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Was hilft? Wir haben Bewältigungsstrategien:
Aus all den Zitronen, die uns die Neurodermitis beschert, versuchen wir einen grossen Zitronenkuchen zu backen. Auch in ausweglos erscheinenden Situationen probieren wir, miteinander zu lachen. Während eines Neurodermitis-Schubs schalten wir auf Überlebensmodus, fokussieren auf das wirklich Wichtige, drosseln das Tempo, lassen die Fünf geradestehen, gehen Kompromisse ein und schaffen uns immer wieder kleine Erholungsinseln.
Wir verwöhnen uns mit Extraportionen Eis vor dem Fernseher, ausgedehnten Spaziergängen im Wald, allabendlichen Fussmassagen und unzähligen Kuschelmomenten.
Unsere Wut und unseren Frust lassen wir an Stressbällen und Boxsäcken aus. Wir treffen uns mit Freunden, um unsere Verzweiflung zu teilen und Ballast abzuladen.
Und wir schreiben böse Nachrichten an unseren selbstgebastelten Neurodermitis-Briefkasten.
Nichtsdestotrotz straucheln wir immer wieder und stolpern über neue Steine im Weg. Immer wieder müssen wir unser Improvisationstalent unter Beweis stellen, um neue Wege zu suchen. Immer wieder gifteln wir einander an, um uns nachher wieder zu entschuldigen und in die Arme zu schliessen.
Und trotz der Transparenz unseren Arbeitgebern gegenüber bleibt das schlechte Gewissen wie ein dumpfes Gefühl in uns und Versagensängste und Ängste, alles falsch zu machen, begleiten uns auf Schritt und Tritt.
An alle Familien da draussen, welche ein Lied davon singen können, wie kompliziert, schwer und kräfteraubend der Familienalltag mit Neurodermitis oder einer anderen chronischen Erkrankung sein kann – ihr seid nicht allein und ihr verdient mein grösstes Mitgefühl.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 9. August 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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