Ich gehe aus Rache zu spät ins Bett
Babys, die immer um die gleiche Uhrzeit schreien. Oder Kinder, die abends halbe Romane erzählen. Die englische Sprache hat für jedes Phänomen eine Bezeichnung. Andrea hat ihre Favoriten aufgeschrieben.
Ich liebe die englische Sprache. Für sehr viele Begriffe gibt es sehr, sehr treffende Ausdrücke. (Ich weiss, alle angelsächsischen Muttersprachler bewundern uns umgekehrt im Deutschen genau dafür – Schadenfreude, Doppelgänger und Über haben es nicht per Zufall auch in den englischen Sprachgebrauch geschafft).
So ziemlich alles, was sich jeden Abend ab zirka 20 Uhr abspielt, wenn mein Hirn auf Restbatterie umschaltet und Streichhölzer die Augenlider offenhalten, hat auf Englisch einen eigenen Namen.
Meine Lieblingsbegriffe habe ich deshalb mal chronologisch geordnet, wir beginnen so irgendwo rund um den Sonnenuntergang:
1. The Witching Hour
Ich hätte meine Uhr danach stellen können. Trotzdem stieg mein Puls beim ersten Schrei jeweils sprungartig an: die «Witching Hour» (manchmal auch «Wolfsstunde» genannt im deutschen Sprachraum) verhexte meinen Sohn jeweils abends für just eine Stunde:
Er liess sich nicht beruhigen, weder vom Baby-bouncenden Vater, noch vom Dondolo, nicht einmal die Brust konnte ihn begeistern.
Nach 50 bis 60 Minuten war der Spuk vorbei, das Kind erschöpft, je nach Tagesform heulten die Eltern oder sie starrten stumpf in eine Ecke.
Immerhin: Das Phänomen hat einen Namen, ist voraussehbar und normal. Mir half das enorm, denn gerade als neue Mutter stellt man sich ja oft die Frage:
Was mache ich bloss falsch?
Wirklich absolut nichts, in diesem Fall.
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2. Decision Fatigue
Geht die Sonne unter, bin ich müde. Nicht nur mein Körper, auch mein Hirn. Gefühlt 1000 kleinere und grössere Entscheidungen habe ich heute schon getroffen, mit ebenfalls kleineren oder grösseren Konsequenzen.
Es muss nicht immer der Entschluss zu einer Weltreise sein – auch vermeintliche Mikro-Entscheidungen haben oft einen Domino-Effekt, den wir erst mal komplett Stein für Stein durchdenken müssen.
Eigentlich spielen wir mit unserer Mental Load den ganzen Tag im Kopf Tetris.
Abends ist dann irgendwann der Speicher voll, die Harddisk am glühen, und was dann passiert, wenn noch irgendjemand fragt, ob es jetzt am Donnerstag oder am Freitag gäbiger wäre für einen Fondue-Abend, wissen wir alle, was folgt:
Complete System Overload.
Die Entscheidungsmüdigkeit wird mit der Anzahl der gefällten Entscheidungen innerhalb eines Tages immer stärker, und je mehr Entscheidungen wir schon getroffen haben, desto schlechter werden sie übrigens auch!
Drum: wenn du mal wieder kurz davor bist, die Beziehung komplett in Frage zu stellen – schlaf drüber.
3. Second Wind
Hat nichts mit Fürzen zu tun (obwohl, im Haushalt mit Kindern durchaus immer ein Thema und zu später Stunde besonders lustig – hihihihihihi!), sondern mit dem Energieschub, der die Kinder kurz vor dem ins Bett gehen heimsucht.
Unsere wrestlen, jagen sich wankend – da müde – durch das ganze Haus, springen auf dem Bett herum und verletzen sich natürlich in der Regel, was der müden Mutter dann zugegebenermassen nicht mehr ganz so viel Empathie abringt.
Warum tun sie das?, frage ich ChatGPT. Es wird angenommen, dass dieses Phänomen durch einen Anstieg des Cortisols verursacht wird, eines Hormons, das den Energiehaushalt reguliert. Wenn Kinder übermüdet sind, kann ihr Körper als Stressreaktion Cortisol ausschütten, was zu einem vorübergehenden Energieschub führt.
Und zu einem zusätzlichen Energieabbau bei den Eltern.
4. Bedtime Monologue
Den ganzen Tag knapp ein «Ja», «Nein», «Hm». Wie das Playdate war, erfahre ich nicht. Ob’s dem besten Kollegen gut gehe, beantwortet der Sohn bereits genau gleich wie der Vater: «Öhm, glaub’ schon, hab’ nicht gefragt.»
Grundsätzlich erfahre ich von meinen Kindern wenig bis gar nichts. Durch den Tag.
Wenn es Zeit zum Schlafen wäre, das Kind gepischelet und gebettet, auf dem Kissen liegend, und ich mental schon mitten in der nächsten seichten Staffel «Emily in Paris» – DANN geht’s los.
Die Themen? NICHT Netflix & Chill. Eher so: Tod. Einbruch. Klimakrise. Selbstzweifel. Veränderungen am Körper. Hänseleien in der Schule. Alles Fragen, die man tagsüber noch so gerne emotional begleiten und besprechen würde, vielleicht noch mit dem passenden Buch zur Hand.
Aber jetzt? Entfährt mir nur ein tiefer Seufzer, und ein «das besprechen wir gerne morgen», während Kind munter weiterplappert.
Der nächtliche Monolog hat übrigens verschiedene Gründe – beispielsweise den Wunsch, mit den Eltern zu connecten oder die Ereignisse des Tages zu verarbeiten. Oft spielt auch Trennungsangst mit und damit der Wunsch, die Eltern noch länger bei sich zu behalten.
Ein Tipp – nicht von mir, aber tönt gut – für die schweren Themen: Den Gedanken in einer «Sorgenbox» deponieren und bei Tageslicht erneut besprechen.
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5. Revenge Bedtime Procrastination
Die Kinder im Bett, es ist endlich (!) still, niemand will etwas von mir. Ich muss nichts entscheiden, bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ich darf doomscrollen, solange ich will, und zwar ohne dass ein Kind mir über die Schulter guckt und fragt: «Was ist das? Warum macht der das? Warum ist das lustig?»
Es ist wunderbar. Ich kann sogar noch googeln, ob Katzen über Glasbalkone springen (anscheinend schon) und wie man Öl aus den Haaren kriegt (mit Conditioner!).
Revenge Bedtime Procrastination ist «oft ein Zeichen für mangelnde Selbstregulation oder Schwierigkeiten bei der Work-Life-Balance», das verrät mir die KI. Menschen zelebrieren sie, wenn sie das Gefühl haben, tagsüber zu wenig Zeit für sich zu haben, und sie rächen sich dafür – leider an sich selber.
Und deshalb gehe ich natürlich (wieder) zu spät ins Bett, bin am nächsten Tag (wieder) gerädert und schwöre mir: Heute bist du um zehn im Bett.
Right.
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Veröffentlicht am 20. August 2024
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