Schamgrenze, wo bist du?
Mit dem Mutterwerden verschiebt sich für viele auch die Schamgrenze. Wie finden wir einen Weg, um trotzdem unsere Würde nicht zu verlieren?
Das Mutterwerden verändert vieles. Nein, Scherz, ich meine natürlich: Es verändert alles. Und so kommt es, dass viele Frauen plötzlich herzhaft über Dinge lachen können, die ihnen vorher oberpeinlich gewesen wären.
Ein paar solche Erfahrungsberichte habe ich für diesen Artikel gesammelt. Ob das Lachen darüber in jedem Fall gut ist oder ob eine gewisse Scham auch angebracht wäre, um die Würde zu bewahren? Diese Frage habe ich der Psychotherapeutin Valentina Rauch-Anderegg gestellt.
Erster Akt (Wortspiel beabsichtigt)
Nach der Geburt meiner Tochter pumpte ich im Spital gerade beidseitig Milch ab, als der Kinderarzt reinkam, um das Neugeborene zu untersuchen. «Störe ich?», fragte er, und ich antwortete: «Ähm, nein, nein, ich glaube nicht.» Ich wusste ehrlich nicht, ob er störte. Ich, die Privatsphäre ausserordentlich schätzt und bis vor Kurzem genau darauf geachtet hat, wer was von mir sieht. Aber nun bin ich ja Mutter. Und da ist es okay, wenn der Kinderarzt meine Brüste sieht, oder?
Er untersuchte also meine Tochter und informierte mich danach kurz über ihren Hautausschlag. Wir schauten uns konzentriert in die Augen, schliesslich handelte es sich um ein seriöses Thema. Gleichzeitig musste ich mich beherrschen, nicht laut loszulachen – und wenn ich mich nicht völlig täusche, musste auch er seine Mundwinkel arg unter Kontrolle halten. Denn das rhythmische rrr-rrr, das die Milchpumpe von sich gibt, ist ein recht ungewohntes Hintergrundgeräusch für ein solches Gespräch. Als der Kinderarzt das Zimmer verliess, lachte ich laut heraus.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Zweiter Akt
Ein paar Monate später führte ich wieder ein normales Leben. Abgesehen von, ihr wisst schon: allem. Ich ging in die Beckenbodenphysio – während Nicht-Mütter werweissen, um welche Muskelgruppe es sich dabei handelt, entlockt der Name allein den meisten Mamas bereits ein Lachen.
Ich war also dort, um genau zu messen, wie es um meinen Beckenboden steht. Also hat die Physiotherapeutin das Messgerät, sagen wir mal «an der richtigen Stelle installiert» und bat mich, erst einmal im Raum umherzulaufen, später etwas zu joggen und zu hüpfen. Anschliessend haben wir die Ergebnisse besprochen, einen nächsten Termin vereinbart und ich bin wieder rausgegangen.
Auf der Treppe vor der Praxis überkam es mich dann: Ich hielt inne und lachte, lachte, lachte. Denn erst jetzt realisierte ich, was da genau vor sich gegangen ist:
Ich bin unten ohne mit einem Kabel, das aus meinem Körper hing, vor einer anderen Frau durch den Raum gehüpft.
Während der Untersuchung war ich noch ganz bei mir und völlig auf meinen Körper fokussiert. Draussen hingegen schaute ich von einer Aussenperspektive auf die Situation und plötzlich kam sie mir ultraabsurd vor. Ich musste weiterlachen und ich muss auch jetzt noch lachen, wenn ich diese Worte aufschreibe.
Plötzlich kam mir, mitten auf der Treppe, ein anderer Gedanke: Ist einem als Mutter wirklich nichts mehr peinlich oder habe ich meine Würde verloren? Wäre ein kleines bisschen Scham hier angebracht gewesen?
Auch C.K. erzählt mir: «Ich war bei der Beckenbodenphysio und dachte, wir machen dort Pilates-Übungen. Ich war dann ziemlich perplex, als die Therapeutin sagte, ich solle mich doch bitte untenrum frei machen.» Und trotzdem gehört es irgendwie dazu.
Der Scham auf der Spur
Meine Frage an Frau Rauch-Anderegg: Was genau ist Scham überhaupt?
«Scham im psychologischen Sinne entsteht, wenn man das Gefühl hat, etwas entspricht nicht der Norm, der Regel. Nicht dem, was man sich gewohnt ist. Dann reagiert der Körper vielleicht mit Rotwerden oder Schwitzen. Zum Beispiel haben viele die unausgesprochene Regel, dass der Intimbereich grundsätzlich zu bedecken ist und bei der Geburt ist das plötzlich anders, also kann Scham entstehen.»
Oder in unserem Fall: Normalerweise hüpft man unten ohne nicht öffentlich herum. Das Schöne aber ist: Die Schamgrenze lässt sich temporär etwas herunterschieben. Etwas, dass für Mütter laut Rauch-Anderegg sowieso nötig ist. Sie sagt: «Es lohnt sich, die eigenen Erwartungen und Regeln hin und wieder zu hinterfragen. Zum Beispiel im Rahmen des Mutterwerdens: Warum ist mir was wichtig?» Denn eine Mutterschaft erfordere «extreme Flexibilität» sagt sie und lacht.
Aber ein bisschen Scham ist okay?
Rauch-Anderegg sagt: «Ich denke, ein bisschen Scham ist gut. Das hilft, in gewissen Situationen innezuhalten und zu reflektieren: Was will ich? Und nicht: Es ist eh alles egal. Und es kann schützen, wenn man in anderen Gruppen oder Kulturen noch nicht weiss, wie andere mit bestimmten Dingen umgehen. Scham kann aber auch hindernd sein, wenn man zum Beispiel Dinge deswegen nicht anspricht.»
Es sei wie so häufig die goldene Mitte:
Ein bisschen Scham hilft, aber wenn einem alles unangenehm ist, wird das Leben sehr kompliziert.
Mütter können sich jedoch keine grosse Scham erlauben, oder?
«Wichtig ist, dass Frauen wissen, weshalb sie ihre persönliche Schamgrenze runterschieben. Ist es nur, weil alle sagen, als Mama müsse man sich halt einfach gehen lassen und es spiele zum Beispiel keine Rolle, «was bei der Geburt alles unten rauskommt«? Es hilft nichts, wenn diese Verschiebung der Schamgrenze von aussen erzwungen wird. Als Mutter muss einem nicht alles egal sein.»
Als Mutter muss einem nicht alles egal sein. Was für ein wichtiger Satz.
Rauch-Anderegg führt das konkreter aus: «Ein innerer Widerstand zum Beispiel ist ein schlechtes Zeichen. Wenn es für eine Frau sehr wichtig ist, die Kontrolle zu behalten, sollte diese nicht unter Druck die Scham loslassen, denn die Kontrolle ist Teil ihrer Identität und daher wichtig. Kommt dann der Druck von aussen, dann wird ihr etwas weggenommen. Es hilft aber auf jeden Fall fürs Loslassen, wenn eine angehende Mutter sagen kann: Es gibt Normen, die ich mir gesetzt habe, jetzt gerade sind mir diese aber nicht wichtig oder ich versuche sie unwichtiger werden zu lassen für eine Phase.»
So beschreibt auch T.R. die Stunden nach der Geburt: «Ich lag 45 Minuten lang mit in die Luft gespreizten Beinen auf dem Gebärbett. Eine Assistenzärztin hat meine Labien- und Vaginalrisse genäht und sich dabei sehr viel Zeit gelassen. So lag ich also da und wartete, kurz vor einem Wadenkrampf, während gefühlt 100 Menschen ein und aus gingen, um meine Tochter zu untersuchen. Aber hey: Dort unten war gerade ein Kind rausgekommen, also war’s dann auch okay, dass der Ort temporär sozusagen öffentlich war.»
Ähnliches hat C.A. erlebt: «Nach der Geburt mussten sie mir die Plazenta auskratzen und dann den gerissenen Gebärmutterhals wieder zunähen. Dabei sassen gefühlt 20 Menschen zwischen meinen Beinen und haben mit irgendwelchen Instrumenten an mir herumgewerkelt. Im Nachhinein fand ich die Situation dann irgendwie schräg, aber sie haben’s gut gemacht …»
Und S.K. erzählt: «Nach der Geburt lag meine Plazenta einfach so auf dem WC-Deckel im Gebärsaal. Mein Mann hat sie dann unbeabsichtigt gesehen. Ich weiss bis heute nicht, wie sie ausgesehen hat und spüre irgendwie eine gewisse Scham, die ich nicht recht erklären kann.»
Nur weil man lacht, findet man etwas nicht zwangsläufig lustig.
Frau Rauch-Anderegg, wie merke ich, ob ich eine Situation wirklich lustig finde, oder ob sie mich eigentlich verletzt?
«Wenn Frauen merken, dass bestimmte Situationen immer wieder nachhallen und einen fahlen Beigeschmack haben, dann macht es Sinn, dort genauer hinzuschauen, vielleicht mit einer Fachperson. Wenn jemand also in der Situation darüber lacht, es sie aber abends jeweils beschäftigt, ist es meist nicht gut. Oder wenn ähnliche Themen immer wieder auftauchen. Dort sind die wunden Punkte und die hat jede Person. Scham kann übrigens auch erst im Nachhinein entstehen, wenn man zum Beispiel nochmals an die Geburt zurückdenkt.»
Und was entscheidet, wie jemand auf eine Situation reagiert?
«Ob jemand auf eine Situation mit Scham oder mit Humor reagiert, hat grob gesagt mit drei Faktoren zu tun: Mit der Art, wie wir selbst sozialisiert worden sind. Bin ich in einem Umfeld gross geworden, in dem viele oder wenige schamvolle Situationen entstanden sind? Dann der Charakter: Bin ich jemand, die auch einmal Fünfe gerade sein lassen kann? Was habe ich für Ressourcen und Stärken? Und letztlich kommt es auf die Tagesform an: An einem guten Tag ist die Ausgangslage anders, als wenn jemand ermüdet ist.»
Wie überall ist auch hier der Unterschied zwischen den Frauen sehr gross.
Einige empfinden bereits ungewaschene Haare oder behaarte Beine aufgrund Zeit- und Energiemangel als entwürdigend, andere können über ganz andere Dinge lachen. Und etwas Distanz zur Situation kann auch schon einiges ändern.
So erinnert sich N.R.: «Zu Hause ist meine Fruchtblase geplatzt, also bin ich ab ins Spital. Dort sagten sie mir, sie hätten gerade keinen Platz für mich, ich solle doch auf dem Stuhl beim Lift warten. Da sass ich also, während das Wasser unaufhörlich aus meinem Körper lief und allmählich eine Pfütze bildete. Mir war das so peinlich! Jetzt im Nachhinein muss ich aber ziemlich lachen und erzähle allen davon.»
Und V.R. berichtet lachend: «Manchmal wollte ich nachts stillen, habe eine Brust ausgepackt und bin dann direkt wieder eingeschlafen. Solche Situationen sind eh einfach äusserst absurd, ich muss da immer lachen.»
Letztlich ist es natürlich wichtig, dass sich eine Frau in jeder Phase ihres Lebens würdevoll fühlt. Und dafür braucht es eben für jede etwas anderes.
Irgendwann sei aber auch mal gut mit den absurden Situationen, findet E.K.: «Ich war total genervt, als ich Monate nach der Geburt noch geburtsbedingte Hämorrhoiden entfernen lassen musste. Ich dachte, mein Körper sei jetzt wieder Privatsache und meine Schamgrenze so hoch, wie vor der Schwangerschaft: ab und zu ein Besuch bei der Frauenärztin und sonst in der Körpermitte doppelt bedeckt. Nun musste ich eine Körperöffnung herzeigen, die ich ja nicht mal selbst je richtig gesehen habe.»
Wie können Frauen mit Scham-Situationen abschliessen?
Frau Rauch-Anderegg sagt: «Das sollte Schritt für Schritt geschehen und am besten mit möglichst wenig Erwartungen. Man sollte für jede Phase schauen, was einem wichtig ist, dann kann man sich immer wieder anpassen. Und vielleicht lohnt es sich, ein Ritual zu finden, wie man mit schambehafteten Situationen abschliessen kann.»
Die Beurteilung, wann eine Situation schambehaftet ist und wann nicht, ist in jedem Fall sehr subjektiv und entbehrt manchmal auch jeder Logik, wie dieses Beispiel von S.R. zeigt: «Während der Geburt habe ich auf den ganzen Boden erbrochen. Ich war froh, dass die Hebamme gerade nicht im Raum war und das nicht sah. Das wäre ja peinlich! Schnell holte ich ein paar Tücher und wollte den Boden putzen – zwischen zwei Wehen notabene. Als die Hebamme reinkam, war sie völlig verdutzt und meinte nur, ich solle mich wieder hinlegen, sie mache das schon. Mittlerweile ist mir eher die Tatsache peinlich, dass ich dachte, ich müsse den Boden säubern.»
Die Gespräche mit den Müttern in meinem Umfeld sowie mit Valentina Rauch-Anderegg waren mehrheitlich sehr lustig und ich merke einmal mehr:
Irgendwie geht es uns allen gleich und ich werde wohl weiterhin über meine Erfahrungen lachen – und gleichzeitig die Gefühle aller anderen ernst nehmen.
Ich habe realisiert: Nichts verleiht mir persönlich mehr Würde, als der Fakt, dass mein Körper dieses Wunder erschaffen hat. Und zum Abschluss mein Lieblingszitat aus dem Gespräch mit Frau Rauch-Anderegg: «Die Geburt ist der Startschuss in ganz viel Flexibilität. Und: Auch bei uns Mamis ist alles nur eine Phase.»
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 9. Februar 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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