Ausgestillt – ein Nachruf auf meine Muttermilch
Drei lange Stillbeziehungen, mehr als acht Jahre Stillen. Was bleibt, sind schöne, traurige, schmerzhafte und lustige Erinnerungen. An laute Milchpumpen, Gesichtsduschen und Safransauce.
Mehr als acht Jahre dauerte unsere Beziehung, mit kurzen Unterbrüchen. Drei Kinder hast du mit mir zusammen grossgezogen. Nun bist du weg. Für immer. Was bleibt, sind Erinnerungen. An schmerzhafte, schöne, traurige, lustige, peinliche, anstrengende, verzweifelte, glückliche Momente. An drei lange Stillbeziehungen, die fast nahtlos ineinander übergegangen sind.
Bei unserer allerersten Begegnung habe ich vor Schreck geschrien.
Unter der Dusche war’s, ich in der 36. Woche schwanger und du nur ein kleiner, dunkelgelber Tropfen aus meiner Brustwarze. Kolostrum. Dass du schon da bist, hätte ich nicht erwartet. Auch nicht, dass du aussiehst wie Safransauce. Überhaupt fand ich es irgendwie gruselig, dass mein Körper Milch produziert. Milch, die einen anderen Menschen ernähren soll. Doch wir haben uns schnell aneinander gewöhnt.
Ab März 2012 warst du regelmässig im Einsatz. Gesehen haben wir uns anfangs selten. Du bist ins erste Kind reingeflossen und da geblieben. Ein paar Stunden lang. Wenn du unten wieder rausgekommen bist, rochst du noch immer nach Milch – und sahst wieder aus wie Safransauce.
Bei Kind 2 wurde unsere Bekanntschaft dann einiges intensiver. Unfreiwillig. Kaum jemand traute dir anfangs zu, dass du dieses Kind würdest ernähren können. Dieses Kind mit Down Syndrom und Herzfehler. Ich habe an dich geglaubt, ans Kind, an uns drei als Team. Die Pumpe lief monatelang auf Hochtouren.
Ich fühlte mich wie eine Milchkuh.
Auch beim dritten Kind waren unsere Begegnungen zahlreich, obwohl dieses Mal die Pumpe sehr bewusst im Schrank blieb. Doch Spuckbaby sei Dank haben wir uns in allen möglichen Stufen der Verdauung wiedergesehen.
Da ein Gutsch und dort ein Gutsch – plitsch, platsch, plitsch.
Saubere Kleider hatte das Kind nie lange an (ich auch nicht). Ständig hast du dich in den Vordergrund gedrängelt, und nicht mal vor Photobombing Halt gemacht. Und so prangt auf dem Bild im Pass von Kind 3 ein grosser, verdächtiger Fleck am Halsausschnitt des Pullis.
Ja, du standest gern im Mittelpunkt. Dreimal in meinem Leben drehte sich für ein paar Wochen, bei Kind 2 sogar ein paar Monate, fast alles um dich und um deine Produktions- und Schenkstätte. Da wurde gekühlt und gewärmt, massiert und entstaut, gesälbelt und gelüftet, ausgestrichen und abgepumpt. In Endlosschlaufe.
Für dich musste ich vieles erdulden: Quarkwickel und Kohl im BH. Unbändigen Durst bei praktisch jeder Stillmahlzeit. Stilldemenz. Ungefragte Ratschläge, blöde Kommentare, schiefe Blicke, eigene Zweifel. Und Druck, sehr viel Druck. Von aussen, aber auch von innen.
Ich wollte, dass es klappt – um fast jeden Preis.
Du hast dich mit Blut vermischt und mit Schweiss, mit Medikamenten und Globuli, mit Badewasser, mit Abwasser. Und mit Tränen. Tränen des Schmerzes, der Erschöpfung, der Verzweiflung. Aber auch Tränen des Glücks.
In all den Jahren hast du viel von der Welt gesehen.
Nicht nur die Dusche. Sondern auch das Sofa, den Schaukelstuhl und das Bett. Du warst in zwei verschiedenen Gebärsälen, einem Geburtshaus, im Kinderspital und auf der Intensivstation. In Italien, Amerika und Australien.
Du warst mit mir im Schnee, am Strand und auf dem Klo. Im Zoo, im Museum und in der Fussballgarderobe (kann mal bitte jemand einen stilltauglichen Sport-BH erfinden?). Im Zug, auf dem Schiff und im Flugzeug.
Sogar mit dem Trotti warst du unterwegs – und das erst noch ohne mich. Du wurdest von Kind 1 aka Milchkurier damit nach Hause transportiert, nachdem es Kind 2 und mich im Spital besucht hatte.
Du bist durch Stillhütchen, Milchpumpen und Sonden geflossen, hast dich schwallartig auf Sofas ergossen und wurdest in Schoppen und Beutel gegossen. Deine Resten wurden zum Kleopatra-Bad fürs Baby umfunktioniert.
Du hast im Büro-Kühlschrank zwischen Chicken Kung Pao und Biotta-Saft auf den Feierabend gewartet und standest in der Milchküche des Kinderspitals Seite an Seite neben deinen brothers from other mothers.
Du musstest monatelang im Tiefkühler frieren, ehe du am Ende doch im Ausguss gelandet bist.
Noch bevor ich bei Kind 1 wieder angefangen habe zu arbeiten, hast du Bekanntschaft mit gefühlt hundert verschiedenen Fläschchen und Saugern gemacht. Ohne viel Erfolg. Das Kind wollte dich lieber direkt ab Quelle trinken und nahm in der Krippe nur das Allernötigste zu sich. Trotzdem habe ich im Büro weiter fleissig abgepumt, damit du dich nicht plötzlich aus dem Staub machst.
Zusammen haben wir viele Stunden in einem trostlosen, ungenutzten Sitzungszimmer verbracht. Du, ich und die laute Milchpumpe. Nie konnte ich dabei den Gedanken ganz loswerden, dass der Arbeitskollege nebenan bestimmt jedes rhythmische Pfffffffffffffff-Brrrrrrrrrrrrrrr, Pfffffffffffffff-Brrrrrrrrrrrrrrr, Pfffffffffffffff-Brrrrrrrrrrrrrrr mitkriegt.
Bei Kind 2 gab’s dann eine bessere, leisere, beidseitige Pumpe. Die war auch bitter nötig, bist du doch zeitweise mehr durch die Pumpe geflossen als durchs Kind.
Durch dich habe ich viele neue Bekanntschaften gemacht.
Manche lieber, andere weniger gern. Aufs Kennenlernen von Milcheinschuss, klebrigen Stilleinlagen und hässlichen Still-BHs hätte ich gut verzichten können. Dem Bustier für freihändiges Abpumpen bin ich dafür zu ewigem Dank verpflichtet und das Stillkissen ist aus meinem Bett nicht mehr wegzudenken.
Auch tolle neue Wörter konnte ich dank dir in mein Repertoire aufnehmen: zum Beispiel Brustschimpfphase, Let-Down-Reflex, Football-Haltung und Zigarettengriff.
Meistens hast du unauffällig und zuverlässig deinen Dienst getan. Doch manchmal warst du auch zickig, bist zu schnell geflossen oder zu langsam, hast dem Kind eine Gesichtsdusche verpasst, hast dich gestaut oder bist in den unpassendsten Momenten ausgelaufen – Wet-T-Shirt-Contest einmal anders.
Nie vergessen werde ich den Besuch bei einer Arbeitskollegin und ihrem Mann zu Hause. Brust prall gefüllt, Kind dockt an, lässt gleich wieder los und du spritzt in hohem Bogen übers Sofa und den Couchtisch.
Für jeden Spass warst du zu haben, liebe Muttermilch.
Einmal habe ich tatsächlich versucht, dich direkt ab Brust ins kleine Baby-Nasenloch zu träufeln. Soll angeblich gegen Schnupfen helfen, ist aber ohne entsprechende akrobatische Begabung bisschen schwierig zu bewerkstelligen. Es ist bei dem einen Versuch geblieben.
Wesentlich öfter habe ich aus dir Rahm hergestellt – kein Witz.
Nicht für in den Kafi, sondern um Kind 2 ein paar so dringend benötigte Zusatzkalorien unterzujubeln. Denn während ich beim ersten Kind noch viel zu sehr auf die Uhr geschaut hatte, musste ich beim zweiten auf die Waage schauen.
Die ersten drei Wochen trank es dich nur abgepumpt aus dem Schoppen. Ich pumpte und pumpte und pumpte, um auch ja den Milchfluss genügend anzuregen. Das Kind trank nur einen Bruchteil davon.
Als es die Flasche von einem Tag auf den anderen komplett verweigerte, mussten wir es vor und nach jeder Mahlzeit wiegen, um zu schauen, wie viel von dir tatsächlich in seinem Magen gelandet war. Ja, auch wenn es gerade friedlich an der Brust eingeschlafen war…
Doch damit war das Thema Abpumpen noch lange nicht erledigt. Du warst inzwischen in so reichlicher Menge vorhanden, dass ich neben dem Stillen auch weiter dreimal täglich pumpte. Und eben, den rahmigen Teil von dir abschöpfte und dem Kind mit dem Löffel fütterte. Ein riesen Stress. Und alles nur, um rechtzeitig vor der grossen Herz-OP mit vier Monaten die 5-Kilo-Marke zu knacken.
Dies gelang und nach der OP konnte ich das Pumpen langsam reduzieren. Den Tiefkühler-Vorrat an Muttermilch reduzierte ich dann ein Jahr später und kippte dich literweise den Schüttstei durab. Food waste und waste of time auf einen Schlag. Der Gedanke daran tut mir heute noch ein bisschen weh.
Wegen dir habe ich auf vieles verzichtet.
Auf Koffein. Auf Schlaf. Auf Freiheit und Unabhängigkeit. Manchmal auch auf meine eigenen Bedürfnisse. Wegen dir habe ich mich mit Kinderkrankenschwestern über den starren Trinkrhythmus im Spital gestritten. Wegen dir habe ich mir ein schlechtes Gewissen gemacht, weil ich oft den Weg des geringsten Widerstandes gegangen bin und die Kinder an der Brust habe einschlafen lassen.
Ich habe liegend gestillt, sitzend, herumlaufend, mich verrenkend, schlafend, essend, ja, sogar kackend. Nach der Herz-OP hat Kind 2 eine Weile lang lediglich dann getrunken, wenn ich dabei auf und ab gegangen bin. Als es Zähne gekriegt hat, konnte ich es nur noch im Halbschlaf stillen, weil es mir sonst die Brustwarze abgebissen hätte.
Ab dem zweiten, spätestens ab dem dritten Kind war Stillen nur noch selten eine stille Angelegenheit.
Geschwisterliche Bedürfnisse wurde genau dann immer besonders laut kundgetan und deren sofortige Erfüllung eingefordert, wenn ich es mir mit Stillkissen und Baby bequem gemacht hatte.
Und so habe ich auch Büechli verzellend gestillt, Puzzleteili suchend, Lego bauend, Flügeli aufblasend, schimpfend, Streit schlichtend. Nicht selten musste ich tropfenden Brustes davonrennen, um wahlweise ein Kind, eine Vase oder ein Playmobil-Flugzeug vor dem Absturz zu retten.
Du hast mich zwangsläufig kreativ gemacht. Aber nicht nur mich: Das erste Kind baute sich nach der Geburt des zweiten eine Milchpumpe aus Duplosteinen und pumpte Milch für sein Bäbi ab. «Zwei Kinder unter einen Hut bringen – easy», dachte ich einen kurzen, trügerischen Moment lang.
Dasselbe Kind kam – von Eifersucht getrieben – kurze Zeit später auf die Idee, demonstrativ seine Windel auszuziehen und auf all seine Lieblingsbüechli zu bislen, während ich stillte. Trotz extra Still-Kiste mit beschäftigungstherapeutischen Angeboten für die Geschwisterkinder mussten letzten Endes oft der Fernseher oder das böse iPad die Lage retten.
Du hast viele überrascht.
Die Wochenbetthebammen im Spital, die fanden, du könntest ja die ganze Station ernähren. Den Kinderkardiologen, der es nicht für möglich hielt, ein Kind mit Down Syndrom und Herzfehler voll zu stillen. Auch mich hast du überrascht. Du warst hartnäckig, fast nicht kleinzukriegen. Selbst als ich eine Woche ohne Kinder in den Ferien war, bist du geblieben und standest Kind 3 nach meiner Rückkehr wieder zur Verfügung, als wäre nichts gewesen.
Und auch als Kind 3 in den gemeinsamen Ferien zehn Tage keinerlei Verwendung für dich fand und dich einfach links liegen liess, warst du beim Nachhausekommen gar nicht nachtragend, sondern zuverlässig zur Stelle, als du plötzlich doch wieder gebraucht wurdest.
Zweimal bist du in der darauffolgenden Schwangerschaft langsam weniger geworden, das Abstillen klappte ohne viel Zutun von meiner Seite. Die Pausen waren nur kurz; drei, vier Monate vielleicht. Beim dritten Mal mussten wir gemeinsam ein Ende finden. Als ich Kind 3 nach über drei Jahren Stillen sagte, «Jetzt chunt dänn bald kei Milch meh», meinte es nur unbeeindruckt:
Mami, ich ha au gern Wasser us dinere Bruschtwarze.
Eine Weile lang bist du noch geblieben, auch wenn du nicht mehr gefragt warst, nicht mehr gebraucht wurdest.
Nun bist du versiegt. Für immer. Zeitpunkt des Todes: wohl irgendwann im Mai 2020. Ein Lebensabschnitt geht zu Ende.
Dein Vermächtnis? Zwei Brüste, die nun, ein Jahr nach dem endgültigen Abstillen, wieder halbwegs ihren ursprünglichen Zustand erreicht haben. Eine tiefe Abneigung gegen jegliche Pfffffffffffffff-Brrrrrrrrrrrrrrr-Geräusche. Drei Kinder, die mit dir gross geworden sind.
Wir waren ein gutes Team.
Ich bin dir dankbar, bin meinem Körper dankbar und all den Hebammen, Stillberaterinnen und Freundinnen, die mich unterstützt haben. Ohne Unterstützung wäre es nicht gegangen. Denn nein, Stillen ist nicht die natürlichste Sache der Welt, die einfach so klappt. Ich bin mir bewusst, dass ich sehr viel Glück hatte, relativ problemlos und so lange stillen zu können. Das ist bei Weitem nicht selbstverständlich.
Trotzdem: Wir werden uns nicht wiedersehen. Die Familienplanung ist abgeschlossen.
Ich denk gerne an dich zurück. An dich und mich und die Babys. Vor allem an die Babys.
Und doch bin ich froh, dass du nun weg bist. Dass mein Körper wieder mir gehört, mir allein.
Dass ich in bequemen Positionen schlafen kann – jede Nacht (ähm ja, jedenfalls jede Nacht, die sich kein Kind zu uns ins Bett gesellt – sprich, wenn man’s genau nimmt, keine Nacht). Dass ich mich nach dem Duschen von Kopf bis Fuss eincremen kann, ohne dass ich dafür bei der nächsten Stillmahlzeit angewiedert-entrüstete Babyblicke ernte. Dass ich so viele Energy Drinks trinken kann, wie ich will, weil niemand mehr mittrinkt.
Nein, ich werde dich nicht vermissen.
Aber jedes Mal an dich denken, wenn ich Safransauce esse.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 3. August 2021 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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