7 Gründe, warum ich die Schweiz nicht vermisse
Die Schweiz ist das Paradies. Für viele, doch einige bevorzugen das Leben im Ausland. Zum Beispiel Rinaldo Dieziger. Why, why, why?
When the Matterhorn doesn’t matter anymore.
Diesen Monat sind es drei Jahre her, seit wir die Köfferli in Züri gepackt und unsere Komfortzone im Kreis 5 gegen den wilden Westen eingetauscht haben. Drei Jahre Kalifornien. Dear mother of god – schon drei Jahre!
Zurückgeblickt habe ich nie. Weil, ganz ehrlich gesagt, ich vermisse die wunderschöne Schweiz nicht die Bohne. Heimweh? Fehlanzeige. Das Einzige, was wirklich fehlt, sind Freunde und Familie. Und Bündnerfleisch.
Why? Why? Why?
Wenn wir den Leuten hier in Los Angeles erklären, dass wir aus der Schweiz – no, it’s Switzerland, not Sweden – hergezogen sind, reagieren die meisten erstaunt: “OMG! Why? Why? What are you guys doing here?” Unverständnis auch im gelobten Heimatland: “Ähä, soso, und wann kommt ihr zurück?”
Vielleicht gar nicht. Okay, okay, zumindest im Moment nicht. Und hier sind meine derzeit top 7 Gründe, warum nicht:
1. Endlich wieder Autofahren!
Etwas vom Ersten, was ich hier in LA gekauft habe: ein Auto. Nein, besser: zwei Autos. Weil ÖV ist nicht. Zum Glück. Nach Jahren im Zürcher Dichtestress, in vollgestopften und miefigen Trams, Bussen und Zügen, geniesse ich es morgens unendlich, in die eigene Karre zu steigen, Radio on, Volume up, und dann den von Palmen gesäumten Ocean Boulevard runter. Awesome!
2. You’re looking great today!
Eine überwältigende Mehrheit der Menschen, denen ich hier im Alltag begegne, sind saufreundlich, grundsätzlich positiv eingestellt, offen, super kommunikativ und hilfsbereit. Daran mussten wir uns erst gewöhnen.
Im ersten Jahr wurden wir mehrfach von wildfremden Leuten im Supermarkt angesprochen, wenn wir auf Schweizerdeutsch gejubelt haben, weil wir ein Stück Gruyère gefunden haben: “Where are you guys coming from?” Nur um uns dann herzlich willkommen zu heissen:
Welcome to America!
Man stelle sich das mal umgekehrt in der Schweiz vor. Ebenfalls wird man hier unvermutet mit Komplimenten bedacht: “You look sharp, man!” Auf der Strasse, im Lift, im Starbucks, überall. Und das Beste daran: es ist ansteckend!
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
3. Weihnachten in T-Shirt und Flipflops
72 and sunny. 22 Grad Celsius, Sonne, blauer Himmel. Eigentlich immer. Ausser im Mai (May Grey), im Juni (June Gloom) und wenn wir Besuch aus der Schweiz haben. Dann seicht es mit Garantie.
Das milde Klima und der meist stahlblaue Himmel schlagen extrem aufs Gemüt – im positiven Sinn. Und vereinfachen die Garderobe. Insbesondere die der Kinder. Das Leben ohne Jahreszeiten fühlt sich zwar falsch an, insbesondere im Advent und an Weihnachten, die Tanne in Flipflops und Sonnenbrille ins Auto zu laden, hat aber auch was. Funky!
4. Ethnische Vielfalt und soziales Gefälle
Mein Leben fühlt sich hier voller an. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Arm und reich, schwarz und weiss, laut und leise, schrill und traditionell. Vergoldete Bugattis am Rodeo Drive, durchgerostete Wohnmobile am Venice Beach. In Compton drohen Gangs mit Waffengewalt, in Malibu Anwälte mit Millionenklagen wegen versperrter Meersicht.
LA ist bunt, vielfältig und crazy (unser Klavierlehrer trägt eine 3D-Kinobrille ohne Gläser, weil er das Gestell cool findet), aber auch roh, kompromisslos und kompetitiv. Wir sehen uns einem in jeder Hinsicht grösseren Spektrum ausgesetzt, als in der Schweiz, die sich von aussen wie eine Oase und von innen wie ein Porzellanladen anfühlt.
5. Ein Leben wie im Film
Amerika fand für mich, abgesehen von ein paar Trips nach New York, bisher im Fernsehen statt. Eine vermeintlich künstliche Welt. Immer wieder treffen wir auf Orte, Charaktere und Situationen, die uns seltsam vertraut vorkommen. Das Spital sah aus wie bei Grey’s Anatomy, die Schulen wie bei Beverly Hills 90210 und die Mütter reden miteinander wie in Big Little Lies oder I’m Sorry (mein aktueller Favorit auf Netflix).
Die ganzen Filme und Serien fühlen sich echter und realer an. Wir haben jetzt plötzlich die gleichen Produkte im Kühlschrank wie die im Film. So geil! Und dann sehe ich am Abend auf HBO plötzlich einen Vater, den ich vom Kindergarten kenne. Oder noch besser: unseren Dachdecker, der eigentlich Schauspieler ist.
6. Embrace the new
LA ist aber nicht nur Filmset, sondern auch Versuchslabor. Hier werden Trends geboren. Und gelebt. Es gibt mehr Teslas und Yoga-Studios als Sand am Meer, die ersten E-Scooters (Bird) kamen hier auf die Strasse, die ersten CBD Lattes (Marihuana ist das neue Gold) in die Gestelle, die ersten künstlichen Burger (Beyond Burger, Impossible Burger) auf den Grill und eines Nachts, als wir von Mammoth Mountain auf dem Highway nach Hause fuhren, flog eine Rakete von SpaceX über uns hinweg.
Snapchat und Tinder haben ihren Hauptsitz hier genauso wie die ganzen Record Labels, Game Studios und Hollywood. Man lebt hier am Puls der Zeit. Mit Menschen, die von überall her kommen (180 Länder, 140 Sprachen) und sich weder der Geschichte noch Traditionen verpflichtet fühlen. Risikofreude und Experimentierlust gehören zum Lebensstil. Und wenn es nicht hinhaut: Let’s start over. Das wird unseren Kids in der Schule eingetrichtert:
There is no such thing as failure, there are only learning experiences.
7. Freiheit!
Der letzte und am schwierigsten zu erklärende Grund, warum ich die Schweiz nicht vermisse, ist eigentlich mehr ein gutes Gefühl als ein guter Grund: Freiheit. Und Möglichkeit. Vielleicht liegt es an der Geografie, der schieren Grösse und Weite. Vielleicht auch an dem Fakt, dass man sich an einem neuen Ort immer auch neu erfinden kann und muss. Ich weiss es nicht.
Freiheit findet ja im Kopf statt. Die Auswahl und die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten beflügeln das Gefühl natürlich. Und bestimmt hilft es auch, dass man hier nicht schräg angeschaut wird, wenn man mit einer 3D-Kinobrille zum Klavierunterricht auftaucht.
Weitere Texte zum Thema: Los Angeles mit Kindern. Wie man Expat wird, darüber schrieb Andrea, ebenso über ihren Kulturschock im eigenen Land. Björn und Linda Hering erzählen im «Malehrlich» – Video von ihrem Leben in Bali.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 24. November 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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