Mehr Racker – weniger abrackern: ein irritierender Entscheid
Anja Knabenhans will mehr Zeit mit ihrem Wunschkind verbringen. Ihre Karriere steckt sie zeitweilig zurück. Das wollen nicht alle verstehen.
Jetzt bin ich auch SO EINE.
Ich erhalte verständnislose Blicke, sogar mitleidige. Und erstaunlich viele fragen: «Hast du dir das gut überlegt?» Ja, mässi, hab ich! Es wirkt von aussen vielleicht bekloppt: Ich hatte einen Teilzeitjob bei einer grossen Zeitung, ein tolles Team, einen guten Lohn – und kündigte. Um mehr Zeit für die Familie zu haben.
Für den kleinen Racker.
«Ich hätte nie gedacht, dass du mal SO EINE sein wirst», sagt eine Bekannte. Ihre Intonation verdeutlicht, was sie meint: ein Huscheli, das mit der Geburt des ersten Kindes schwuppdiwupp berufliche Ambitionen sausen lässt und vermutlich bald nur noch über Kackkonsistenzen und Zahnzuwachs plaudern mag.
Momoll, ich bin SO EINE, irgendwie. Nämlich eine, die alles will und vieles unter einen Hut quetschen kann. Die aber auch reagiert, wenn’s nicht funktioniert. (Zugegeben: Meist ziemlich spät, wenn die Augen in tiefen Kratern hängen und das Stressfuttern Bauch und Hüfte bereits eingepolstert hat).
Reue auf dem Sterbebett
Es war nicht leicht, sich dazu durchzuringen, Existenzsorgen und so. Trotzdem: Ich gebe meinen Beruf nicht ganz auf, nehme mir aber die Freiheit, ihn eine Zeitlang nicht so wichtig zu nehmen. Prioritäten setzen halt – selten toll, oft unumgänglich. (Manchmal helfen mir dabei Texte wie dieser bei der Entscheidungsfindung: Fünf Dinge die Sterbende am meisten bedauern.)
Den Job um die Familie herum arrangieren, nicht mehr umgekehrt.
Man könnte meinen, das klinge vernünftig. Applaus hatte ich nicht erwartet, aber stille Akzeptanz. All die besorgten Nachfragen zeigen allerdings, dass eine Frau sich heute rechtfertigen muss, wenn sie mal nicht an allen Fronten gleichzeitig powern, sondern einfach gut genug durchs Leben stolpern will.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Uterus-Geheimnisse
Und ich Totsch falle auch noch drauf rein, erkläre: «Es war eben nicht ganz unproblematisch, dieses erste Kind zu kriegen. Wer weiss, ob es nochmals klappt. Und deshalb möchte ich das kleine Wunderwerk jetzt umso mehr geniessen.» Ich erzähle das Leuten, die’s eigentlich nullkommanix angeht, was mein Uterus so für Fisimatenten macht – aber ich liefere Begründungen, weil sie meine Priorisierung in Frage gestellt haben.
Ja, ich musste mich damit auseinandersetzen, dass es nicht klappen könnte. Bin unendlich dankbar, dass es anders kam. (Und finde deshalb Beiträge über unerfüllten Kinderwunsch umso wichtiger.)
Ich! Will! Das! Jetzt! Auskosten!
Und hätte nie gedacht, dass das so viel Irritation aufwirft.
«Wirst du jetzt eine Helikopter-Mutter?» war eine der geistreichen Fragen. Helikopter? Ich bin eine ganze Rettungsflugwacht! Mein Sohn darf hinfallen, die Finger einklemmen, eimerweise Sand fressen und von mir aus auch sein heissgeliebtes Katzenfutter. Aber ich will dabei sein, Tränen wegküssen, Freudengluckser hören, zigtausend Fotos schiessen oder auch ein Stück Katzenfutter in den Mund gedrückt kriegen. Ich will um ihn kreisen, sein Leben teilen, schauen, wie er die Welt entdeckt. Ich will ihn verwöhnen.
Das verbotene Wort mit V
Ui, hoppla! Da ist es, das böse Wort. Gemäss Karl Heinz Brisch, einer Koryphäe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist «verwöhnen» heutzutage ein negativer Begriff.
In einem Interview mit der «Zeit» erzählt er von Erfahrungen in Elternkursen: «Wenn wir die angehenden Eltern fragen, was sie fürchten, das ihrem Baby schlimmstenfalls passieren könnte, dann antworten acht von zehn Eltern nicht, dass es behindert wäre oder gesundheitliche Probleme hätte oder gar bei der Geburt sterben würde, nein, sie fürchten: ‘dass unser Kind verwöhnt wird’. (…) Während unserer Kurse fragen die Eltern auch immerfort: Wann fangen wir an, das Baby an Frustrationen zu gewöhnen, ja sogar abzuhärten?»
Absurd. Aber total alltäglich, wie mir Mütterberaterinnen bestätigen.
Ich verwöhne den Kleinen weiterhin. Nicht mit Schoggi, Fernsehen, Hipsterspielzeug. Sondern mit meiner Anwesenheit. Ich widme mich dem «Projekt Kind» – ein abwertender Begriff, den ich kürzlich in einem Artikel las, wo es darum ging, dass heute viel mehr Tamtam ums Kindergrossziehen gemacht wird.
Ich bin saumässig dankbar, dass ich die finanziellen und sozialen Möglichkeiten dazu habe!
Und werde hoffentlich bald lernen, stolz SO EINE zu sein und jegliche Rechtfertigungsversuche runterzuschlucken.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 1. November 2016 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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