Interview
«Ich möchte Müttern von Buben etwas in die Hand geben»
Buben sind laut und kennen keinen Schmerz. Wirklich? Wie erziehen Eltern ihre Söhne zu empathischen Männern mit Sinn für Gleichberechtigung? Die Autorin Anne Dittmann hat dazu ein Buch geschrieben und gibt Tipps.

Anne Dittmann ist Journalistin und Bestseller-Autorin. Sie schreibt über familienpolitische Themen, mit speziellem Augenmerk auf Getrennt- und Alleinerziehende und immer mit einer intersektional-feministischen Haltung. Am 1. Mai ist ihr jüngstes Buch «Jungs von heute, Männer von morgen – was unsere Söhne für eine gleichberechtigte Zukunft von uns brauchen» erschienen.
Anne Dittmann, was für weibliche und männliche Vorbilder hatten Sie in Ihrer Kindheit?
Ich wurde auch in Ostdeutschland sozialisiert. Ich hatte starke weibliche Vorbilder: Meine eine Grossmutter war Zahnärztin, die andere Ingenieurin. Meine Mutter hat auch immer gearbeitet, und trotzdem hatten wir nicht viel Geld. Ich hörte auch immer: «Mach dich nie von einem Mann abhängig!» Und schon in meiner Kindheit bemerkte ich, dass die Männer zwar ausser Haus arbeiteten, aber sonst viel weniger machen mussten. Sie hingen auf der Couch herum, während die Frauen kochten, den Abwasch machten, den Haushalt erledigten. Die Frauen in meiner Familie haben irgendwann die Männer auch aufgegeben, weil sie nichts beitrugen.
Vor wenigen Tagen ist Ihr neues Buch «Jungs von heute, Männer von morgen» erschienen. Was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Ich hatte während meiner Schwangerschaft Probleme mit der Vorstellung, dass ich einen Sohn bekommen könnte. Bei einem Mädchen wäre für mich alles klar gewesen. Ich wusste, wie ich erziehen würde, nämlich feministisch. Ich wollte keine Jungsmama sein. Ich fand Männer vor allem schwierig und ich hatte damals keine männlichen Freunde oder gute Vorbilder. Als das Kind dann zur Welt kam, fielen mir die Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch mehr auf. Ich trug das Baby durch die Nächte, während mein früherer Partner nicht mal wach wurde. In den Augen seiner Mutter war er aber der arme, überlastete Vater. Ich musste einen Zugang finden, wie ich mich mit meinem Baby versöhnen kann. Ich wollte keine negative Einstellung zu meinem Sohn haben. Ich schreibe in meinem Buch auch, wie ich von meinem Sohn geträumt habe. In diesem Traum war er nähebedürftig und liebevoll. Von da an dachte ich, er und ich können eine solche Beziehung haben. Das hat mich bewogen, das Buch zu schreiben. Ich habe jetzt auch schon einige Jahre mit ihm zusammengelebt und gemerkt, man kann schon einiges beeinflussen.
Kinder spüren anfangs lediglich Affekte. Wir können entweder dafür sorgen, dass sie bei den Affekten bleiben oder dass sie lernen, vielfältige, auch widersprüchliche Emotionen wahrzunehmen.
Was möchten Sie mit diesem Buch bewegen oder vermitteln?
Bewegen möchte ich ganz viel! Es war mir wichtig, die Fakten darzustellen, weil in der Welt viel Halbwissen ausgetauscht wird. Ich möchte aufräumen mit diesen Fehlinformationen. In meinem Buch habe ich vieles mit Studien und Expert:innen-Interviews widerlegt, wie beispielsweise den Irrglauben, dass Jungs mehr herumtoben und raufen, weil sie das Testosteron spüren. Mädchen und Jungen haben aber vor der Pubertät alle den gleichen Testosteron-Spiegel. Dass Buben raufen, hat null damit zu tun. Die Sozialisierung ist hier der Hauptfaktor. Es gibt mittlerweile viele Männer, die Gleichberechtigung gut finden, aber noch nicht genau wissen, wie sie diese konkret umsetzen sollen. Dann gibt es viele Männer mit grossen Plattformen, die den Backlash antreiben. Ich möchte den Müttern, die diesen Rechtsrutsch für ihre Söhne fürchten, etwas an die Hand geben.
Sie sprechen darüber, wie wir Buben wirklich stärken, wie sie den Umgang mit Gefühlen lernen und mehr. Wie tun wir das?
Ich dachte lange, Kinder haben von Natur aus alle möglichen Gefühle, und wir trainieren sie ihnen im schlechtesten Fall ab. Aber dank der Kleinkindpädagogin Susanne Mierau, die auch im Buch vorkommt, weiss ich: Kinder spüren anfangs lediglich Affekte. Wir können entweder dafür sorgen, dass sie bei den Affekten bleiben oder dass sie lernen, vielfältige, auch widersprüchliche Emotionen wahrzunehmen. Wir können mit unseren Söhnen von klein auf üben, Gefühle zu entdecken und fragen: «Was fühlst du gerade? Bist du jetzt sauer? Bist du traurig?» Wenn Kinder sich in ihren Gefühlen gesehen fühlen, können sie auch aus deren Wucht aussteigen und einen Umgang damit finden. Wenn wir ihnen Angebote machen, ermöglichen wir ihnen die Forschungsreise in facettenreiche Gefühlswelten. Der US-Psychologe und Männlichkeitsforscher William Pollack hat beobachtet, dass viele Eltern ihre Jungs beschämen, wenn sie sich öffnen und beispielsweise Traurigkeit zeigen. So werden stoische Männer herangezüchtet.
Sie schreiben in deinem Buch: «Es beginnt bei Brotdosen, Shirts und Rucksäcken.» Aber was machen wir, wenn die Buben sich weigern, ein rosa T-Shirt anzuziehen und unbedingt einen Schulranzen mit Pokémon darauf wollen?
Natürlich kann man ein Kind nicht zwingen, das rosa T-Shirt anzuziehen, wenn es nicht möchte. Aber man kann auf Augenhöhe gehen und das Gespräch suchen. Ich habe jeweils versucht spielerisch zu fragen: «Findest du das fair, dass Rosa und Silber Mädchenfarben sind? Was ist denn mit allen anderen Farben? Wieso dürfen Mädchen nur die zwei haben, wenn es so viele Farben gibt? Und was ist denn mit Himbeereis, magst du das jetzt nicht mehr, weil es rosa ist?» Ich finde es auch wichtig, dass man zusammen über das Patriarchat lachen kann. Mein Sohn hat zum Beispiel lange Haare und wird oft für ein Mädchen gehalten. Anstatt mich aufzuregen und zu schimpfen, dass die Leute Jungen mit kurzen Haaren assoziieren, versuche ich den Situationen mit Humor zu begegnen: «Die haben wir jetzt aber geschockt, was?» So spürt mein Sohn keinen inneren Konflikt, den er lösen muss, indem er sich die Haare abschneidet.
Wenn wir mit Teenie-Söhnen darüber sprechen, erklären wir nicht nur, was stereotype Männlichkeit ist. Wir helfen ihnen auch, sich davon zu distanzieren und stärken im besten Fall auch unsere Beziehung zu ihnen.
Was ist, wenn die Kinder stark auf ihre Peergroup hören in Bezug auf was cool ist?
Man kann zu Hause Bilder aufhängen von verschiedenen männlichen Figuren, beispielsweise von Musikern, die auch lange Haare und bunte Kleidung tragen. So zeigt man Alternativen, die nicht weniger cool sind. Letztendlich geht es mir um Caring Masculinity. Will heissen: Wie schaffen wir eine Verbindung zueinander. Es geht also nicht darum, meinem Kind das rosa T-Shirt aufzuzwingen, sondern den Dialog zu finden und Verständnis für seine Situation zu zeigen. Es ist ja toll, wenn das Kind sich bewusst macht und merkt: Es gibt eine Erwartung an mein Aussehen bezüglich Normschönheit, beispielsweise dass Jungen und Männer muskulös und gross sein sollen. Wenn wir mit Teenie-Söhnen darüber sprechen, erklären wir nicht nur, was stereotype Männlichkeit ist. Wir helfen ihnen auch, sich davon zu distanzieren und stärken im besten Fall auch unsere Beziehung zu ihnen.
Und was, wenn dieser Dialog nicht fruchtet?
Ich habe meinem Sohn seine Meinung zum Rosa gelassen. Wir müssen Kindern Zeit und Vertrauen schenken, damit sie ihren Weg gehen. Wir haben ja auch lange gebraucht, um diese Perspektive einzunehmen. Wir dürfen uns nicht von der Angst leiten lassen.
#daschamebruuche aus unserem Concept Store
Sie stellen die Hypothese auf, dass der Gender-Care-Gap schon in der Kindheit beginnt. Sollten wir Buben schon früh zur Hausarbeit motivieren? Und wenn ja, wie?
Auf jeden Fall die Buben mehr motivieren! Man kann auch erzählen, was man selber alles macht, und feststellen, dass es doch unfair sei, wenn das Kind nicht mit anpackt. Diese Diskussion ist sicher nicht in einem Tag erledigt. Aber das Positive ist ja der Prozess an sich: Jungs lernen, es geht um Aushandeln, um Gerechtigkeit und um individuelle Bedürfnisse. Das kann ihnen nützlich sein für das spätere Zusammenleben in einer WG oder mit einem Partner oder einer Partnerin.
Die gesellschaftliche Erwartung an Männlichkeit ist, dass sie vieles mit sich selbst ausmacht. Jungen begehen denn auch dreimal häufiger Suizide als Frauen.
Was unterscheidet den Umgang mit Söhnen von dem mit Töchtern?
Mir fällt stark auf, dass von Jungs mehr Selbständigkeit erwartet wird. Die Statistiken in Deutschland zeigen, dass mehr Jungs früher und zum Teil ohne Abschluss von der Schule abgehen. Das hat damit zu tun, dass Buben von ihren Eltern eher nach draussen geschickt werden und, dass von ihnen nicht erwartet wird, dass sie gerne malen und basteln. Schwungübungen, stillsitzen und zuhören sind sie im Gegensatz zu Mädchen bei Schuleintritt nicht gewohnt. Jungs haben auch früh einen grösseren Bewegungsradius und weniger enge Bezugspersonen. So wenden sie sich auch nicht an eine Vertrauensperson, wenn sie in einer Krise stecken. Das ist ja auch die gesellschaftliche Erwartung an Männlichkeit, dass sie vieles mit sich selbst ausmacht. Jungen begehen denn auch dreimal häufiger Suizide als Frauen oder geraten häufiger in gewaltvolle Konflikte. Sie wagen nicht sich Hilfe zu holen, obwohl das eine essenzielle Kompetenz eines Erwachsenen ist.
Was können wir tun, damit Buben mitbekommen, dass sie der Erwartung an männliche Normschönheit – Sixpack, markanter Kiefer, breite Schultern – nicht entsprechen müssen?
Wir können ihnen früh zeigen, wie sie ihren Körper achtsam wahrnehmen können, beispielsweise mit Fragen wie: «Was fühlt sich denn eigentlich schön an? Wofür ist denn dein Körper noch da, nebst Krafttraining und Stählen? Wie spricht dein Körper mit dir, was nimmst du wahr?» Man kann beispielsweise den eigenen Körper nach dem Duschen eincremen, die Füsse massieren, den Rücken kraulen. So aktivieren wir bei Kindern die sinnliche Körperwahrnehmung. Das stellt Beziehung zum eigenen Körper her. Generell herrscht die Haltung, dass Jungs dreckig und zerzaust sein dürfen, weil das auch ein Männlichkeitssymbol ist. Aber so lernen die Jungs nicht, sich um ihren Körper zu kümmern. Deshalb auch die Suizidanfälligkeit. Sie merken zu spät, wie schlecht es ihnen geht.
Sie sprechen im Buch von Männerbünden unter Buben, während Mädchen eher eine beste Freundin haben. Wieso sind Jungs eher in Rudeln unterwegs?
In der Männlichkeitsforschung spricht man eher von Jungs-Cliquen und nicht von einzelnen Freundschaften. Handelt es sich um einen Männerbund, also mehrere Individuen, ist schon klar, dass es sich nicht um intime emotionale Beziehungen handelt, sondern um ein Gruppengefüge. Der Schweizer Sozialpädagoge Steve Stiehler hat Männerbünde erforscht. Viele Jungs werden autoritär erzogen. In einem solchen Fall fühlt sich eine Dynamik mit Hierarchien und einem Anführer vertraut an. Mädchen werden emotionaler erzogen und sind dafür weniger anfällig. Sie suchen sich eine oder mehrere Freundinnen, denen sie sich anvertrauen können. Ich möchte aber auch betonen, dass wir nicht überall den gleichen Massstab verwenden dürfen. Nur weil Männer zusammen Biketouren machen, heisst das nicht, dass sie dabei nicht auch intime Gespräche führen. Viele Männer brauchen eher eine Aktivität als Door-Opener, so Stiehler. Auch diesbezüglich können wir mit unseren Söhnen Gespräche führen und sie fragen, was sie von einer Freundschaft erwarten und ob die aktuellen Freundschaften sie erfüllen. Auch Jungs dürfen lernen, wie sich eine sichere Bindung ausserhalb der Familie anfühlt.
Jungs sollen verstehen, dass ein Nein nicht immer verbal kommen muss, sondern an Gesicht oder Körperhaltung abzulesen ist.
Wie sprechen wir mit Söhnen über Sex? Wie lernen sie, was Konsens bedeutet?
Wichtig: Wir sprechen nicht erst mit unseren Söhnen über Sex, wenn sie einen Freund/eine Freundin haben oder schon Sex hatten! Auch bei Sexualität geht es letztendlich um Grenzen. Schon in der Babyzeit dürfen unsere Söhne lernen, ihre Grenzen zu spüren. Wenn sie sagen: «Ich mag das nicht! Aua, das tut weh!», dann sollten wir ihre Grenzen respektieren. Wenn sie ihre eigenen Grenzen nicht kennenlernen, dann können Kinder auch nicht verstehen, dass andere Menschen welche haben. Ausserdem sollten wir unseren Kindern ihre Wahrnehmung nicht abgewöhnen. Wenn sie unseren irritierten Gesichtsausdruck sehen, sollten wir den nicht überspielen mit «alles ok, mir geht’s gut!» Dann hören die Kinder auf, ihrer Empathie zu trauen und verlieren diese Fähigkeit. Später verstehen sie dann vielleicht auch, dass ein Nein nicht immer verbal kommen muss, sondern an Gesicht oder Körperhaltung abzulesen ist. Was ich auch sehr wichtig finde: Es soll keine Tabus im Vokabular geben. Geschlechtsteile dürfen ohne Verniedlichung benannt werden. Wir sollten Berührung kommunizieren und um Erlaubnis fragen.
Ihr letztes Buch «Solo, selbst & ständig» ist ein Wut- und Mutmachbuch für Alleinerziehende. Sie schreiben Kolumnen oder Essays in verschiedenen deutschen Online-Magazinen und Zeitungen – dies immer aus einer intersektional-feministischen Haltung. Wie kam es dazu?
So richtig zu dieser Haltung kam ich, als ich alleinerziehend wurde. Nach der Trennung reagierten Leute anders auf mich, und ich spürte auch zum Teil Schuldzuweisungen. Ich verstand auch nicht, wieso ich plötzlich in Armut gelandet war, obwohl ich studiert und immer gearbeitet hatte. Plötzlich hatte ich Geldsorgen. Ich habe angefangen, auf Instagram darüber zu schreiben. Meine Community wuchs dadurch schnell, weil Menschen und vor allem Mütter sich in meinen Problemen erkannten. So fiel mir auf, dass es sich hierbei um ein strukturelles Problem handelt, und ich begann, mich in meiner Arbeit dem zu widmen.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 6. Mai 2025.
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.