Kinder oder nicht? Mein Weg zur Entscheidung
Die biologische Uhr tickt, die Gesellschaft hat ihre ungeschriebenen Regeln. Aber was will ICH eigentlich?
Vor einem Monat musste ich die Beziehung mit meinem Freund auflösen, weil wir uns in der Kinderfrage nicht einigen konnten.
Er, 40, wollte unbedingt Kinder. Ich, 37, bin wahnsinnig verunsichert mit dieser «grössten Entscheidung des Lebens». Der Druck wurde zu gross, die Uhr tickt. Er wollte seinem Traum noch eine letzte realistische Chance geben, weil ihn die Hoffnung verliess, dass ich meine Meinung doch noch ändern würde.
Wir sind die Trennung zivilisiert und mit einer Therapeutin an- und durchgegangen. Ich verstehe ihn und finde es wichtig, dass man sich für die eigenen Träume einsetzt. Für mich fühlte es sich jedoch nicht richtig an, mich für ein Kind zu entscheiden, ohne selbst einen intrinsischen, innigen Kinderwunsch zu empfinden.
Lag es an der Beziehung, die eher etwas wackelig war?
Oder ist in mir drin dieser Wunsch, den andere so stark fühlen, nicht vorhanden?
Wohl ein wenig von beidem.
Weil der Druck in der Beziehung immer grösser wurde, beziehungsweise die Geduld meines Partners kleiner, habe ich versucht, meiner Entscheidung bewusst auf die Sprünge zu verhelfen. Ich habe die Guardian-Serie Child-free gelesen, den Podcast Beziehungskosmos rauf und runter gehört, viele Dokfilme geschaut, die Bücher “Mutterschaft” von Sheila Heti und “Kinder wollen” von Barbara Bleisch regelrecht verschlungen. Es folgten Gespräche mit Freundinnen mit Kindern, mit den eigenen Eltern, und mit Frauen, die sich bewusst gegen Kinder entschieden haben.
Ich habe alles versucht, mich so gut es geht mit dem Thema auseinanderzusetzen und meine Wahrheit und meinen Weg zu finden.
Die Beziehung zu meinem jetzigen Ex-Freund hat mir echt viel bedeutet. Er fehlt mir. Trotzdem fühlte sich die Entscheidung der Trennung letztlich richtiger an, als sich auf eine Beziehung einzulassen, in der sich mit grosser Wahrscheinlichkeit jemand von uns ein Leben lang verbiegen muss.
Nebst dieser eher rationalen Komponente bleibt momentan die emotionale, seelische Unsicherheit, ob ich das alles richtig wahrnehme, ob ich mich richtig entscheide, ob ich noch etwas lösen könnte, das mich wie die anderen macht.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Auch wenn es sich im Kopf richtig anfühlt, macht es mir Angst und es macht mich traurig.
Denn ich verabschiede mich gerade nicht nur von einem Menschen, den ich wahnsinnig gerne habe, sondern auch von der Vorstellung, vielleicht irgendwann mit irgendwem doch noch eine eigene Familie (zumindest im traditionellen Sinn) haben zu können.
Ich gebe zu, ich gehöre generell nicht zu den Menschen, die sich einfach tut mit Entscheidungen. Doch normalerweise habe ich genügend Zeit für eine ausgereifte Abwägung, kann sie für mich alleine fällen, kann eine Situation ausprobieren und mich im Zweifelsfalle wieder neu orientieren.
Beim Entscheid für oder gegen eigene Kinder ist das anders: Wie das Buch “Kinder wollen” schön zusammenfasst, ist es eine exklusive Entscheidung, sie kann nicht rückgängig gemacht werden. Entsprechend furchteinflössend ist sie – egal in welche Richtung.
Denn auch wenn ich nichts bereue und rückblickend alles genauso beschliessen würde, bleibt das beklemmende Gefühl, dass ich mich gerade gegen die Natur entscheide. Das fühlt sich für mich als naturbezogener Mensch komisch an. Gut, dass Barbara Bleisch den Begriff der Natürlichkeit in ihrem Buch durchaus auch kritisch durchleuchtet.
Es bleibt die Angst, dass ich es vielleicht in ein paar Jahren bereuen werde.
Und doch äussert sich in mir drin kein konkreter, dringender Wunsch nach einem Baby.
Zumindest bis heute.
Warum schenken wir uns eigentlich so viele tolle Sachen und so viel Geld, wenn jemand heiratet und/oder Kinder kriegt? Was ist mit den Menschen, die kinderfrei leben? Wann bekommen sie Geschenke? Eine grosse Feier?
Ist es nicht auch ein Tag zum Gratulieren, wenn sich zwei Menschen ganz bewusst und nach reiflicher Überlegung (und vielleicht sogar mithilfe kostspieliger Therapien) gegen Kinder entscheiden? Oder der Tag, an dem sich zwei Menschen, die sich eigentlich lieben, gegen eine Beziehung entscheiden, die langfristig jemanden unglücklich machen wird?
Kinder ja oder nein?
Dieser Entscheidungsprozess, bei dem es nur zwei Pole und keinen Kompromiss gibt, bringt mich an meine Grenzen.
Ich frage mich öfter: Führe ich mich gerade wie ein trotziges Teenage-Girl auf, das mit 37 noch immer rumzwängelt. («Ja schoooon, aber nicht jetzt, nicht mit dir!»)
Oder habe ich gerade die erwachsenste, mutigste und reifste Entscheidung des Lebens getroffen?
Weil ich gnadenlos ehrlich zu mir und zu meiner Umwelt bin und nach einer intensiven, erwachsenen Abwägung zu der einzig rational vernünftigen Entscheidung stehe?
Was mich zur Frage des Sinns führt. Viele berichten, dass sie den Sinn als kinderfreie Menschen im Job finden (z.B. Sheila Heti als Autorin) oder in der Partnerschaft (z.B. im gemeinsamen Hobby, meist das Reisen und/oder ein Hund). Für mich ist gerade beides nicht greifbar: die Beziehung auseinander und der Job auf Kurzarbeit.
Die Zeit scheint für mich stillzustehen, während andere die grosse Transformation der Elternschaft bereits zum zweiten, dritten Mal eingehen. Wenn die Pandemie einmal überstanden ist, sind ihre Kids schon gross, ihre Welt hat sich weitergedreht, sie haben eine Familie gegründet, den kleinen Menschen ganz viel Tolles beigebracht. Die Kinder geben ihnen Sinn und eine Aufgabe.
Und ich? Was habe ich aus dieser Zeit gemacht? Die Paradoxie der rasant tickenden biologischen Uhr auf der einen und der Entdeckung der Langsamkeit während des Lockdowns auf der anderen Seite begleitet mich, tagein, tagaus.
Wer weiss, vielleicht ergibt diese ganz spezielle Phase meines Lebens irgendwann auch noch einen grösseren Sinn – vielleicht auch nicht. Bis dahin sehe ich den bescheidenen Sinn darin, überhaupt den Luxus zu haben, mich mit grossen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen. Und meine Geschichte mit anderen zu teilen.
(Anmerkung von Any Working Mom: Dieser Text wurde im Februar 2021 während des zweiten Lockdowns verfasst.)
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 19. September 2021 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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