Kinderlos oder «Kinder, los!»
Ich bin 33 Jahre alt, habe einen sicheren Job, lebe in einer stabilen Partnerschaft und … bin nicht schwanger.
Ich bin 33 Jahre alt, habe einen sicheren Job, lebe in einer stabilen Partnerschaft und … bin nicht schwanger. Als ich kürzlich einen Pulli mit grossem &-Zeichen darauf trug, stand die Frage über den aktuellen Stand meiner Fortpflanzung mal wieder im Raum. «Und? Wächst da etwas “Zusätzliches” unter dem Pulli heran? Oder was willst du uns damit sagen?» Eigentlich nur:
Shush! Heb din Schlitte!
Ein Garant für solche Fragen sind Apéros, an denen ich nicht ausgelassen zu Wein und Bier greife, sondern mir stattdessen ein Glas Orangensaft oder Wasser schnappe. Meist sind es verschwörerische Blicke in Kombination mit «Ah, nur etwas ohne Alkohol …» und einem verständnisvollen Nicken, die mir zugeworfen werden.
Nach einem müden Lächeln meinerseits widme ich mich dann dem Plündern des Buffets, um die Verschwörung meiner angeblichen Schwangerschaft weiter aufrechtzuerhalten. Aber primär, um diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. Der Appetit ist mir oft vergangen.
Sie wissen es so viel besser
Aber wieso bin ich nicht Mami oder immerhin schwanger? Weil ich schlichtweg aktuell nicht weiss, ob ich Kinder will oder nicht. Das scheint für das Gegenüber jedoch keine akzeptable Antwort zu sein. Meist wird sie mit «Ach komm jetzt, du wärst so ein tolles Mami» als nichtig erklärt.
Danach folgt eine lose Aufzählung an nett gemeinten Komplimenten zu meinen, respektive ganz allgemeinen Eigenschaften: herzlich, fürsorglich, gut organisiert, verantwortungsbewusst, spontan, kreativ, verspielt, gelassen … Mit welchen ich mich genauso gut als Hundeschlittenführerin in Alaska machen würde. Aber davon wollte mich bisher erstaunlicherweise noch niemand überzeugen …
Sobald der Lobgesang auf meinen Charakter abgeschlossen ist und von den Absendern als wenig erfolgversprechend für die Förderung meines aktuell inexistenten Kinderwunsches erkannt wird, muss das schlechte Gewissen herhalten. «Irgendwann wirst du es bereuen, glaub mir», höre ich dann. Und das ausschliesslich von Menschen mit Kindern, die gar nicht wissen können, ob sie das kinderlose Dasein jemals bereut hätten.
Aber über mein zukünftiges Gefühlsleben wissen sie angeblich bestens Bescheid. Faszinierend.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Wer kein Kind hat, ist kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft
Und sie wissen auch, wie mein Leben ohne Kind ist: Weniger anstrengend, weniger problematisch, weniger herausfordernd und allgemein einfach «weniger». Egal was ich mache, meine Leistung ist minderwertig, da ich daneben nicht noch dieses anstrengende, problematische und herausfordernde Familienleben koordinieren muss.
Um als vollwertig anerkannt zu werden, muss schleunigst ein Kind her.
Oder ich finde mich für den Rest meines Lebens damit ab, dass, egal was ich mache, meine Leistung nur als halb so gut angesehen wird, da ich sie kinderlos ohne Doppelbelastung erbracht habe. Zumal suggerieren mir dies Aussagen wie «Wäre ich auch noch kinderlos, hätte ich das auch schon längst gemacht».
Kinderkriegen ist kein Small-Talk-Thema
Über banale Small-Talk-Themen zu sprechen, mag ich nicht sonderlich. Grundsätzlich finde ich es toll, wenn jemand mit mir nicht über das Wetter, sondern Tiefgründigeres diskutieren will. Leider bleibt es aber beim Thema Kinderkriegen meist oberflächlich und gleicht einem einseitigen Plädoyer ohne Interesse an einem spannenden Diskurs.
Oft fehlt mir die Sensibilität, wenn ein solch persönliches Thema angesprochen wird. Das geht selbst mir so. Stellt euch jedoch Menschen in derselben Situation vor, die nicht freiwillig kinderlos sind …
Mein Leben und was ich daraus mache, ist nicht Allgemeingut. Ein Leben mit oder ohne Kinder ist weder weniger, noch mehr wert.
Ich wünsche mir, dass das Thema mit mehr Tiefgang und Offenheit diskutiert wird. Vorausgesetzt, das Setting stimmt und alle Gesprächspartner wollen sich auf ein persönliches Thema wie dieses einlassen.
Mögliche Fragestellungen zur Inspiration:
- Inwiefern bereichern kinderlose Paare die Gesellschaft/dein persönliches Leben?
- Welche persönlichen Eigenschaften haben sich verändert, seitdem man Mutter/Vater ist?
- Ist Kinderkriegen ein egoistischer Entscheid zur Bereicherung des eigenen Lebens oder ist das Gefühl, einem Menschen ein Leben zu schenken und ihn dabei zu begleiten, stärker?
- Ist kinderlos zu bleiben ein egoistischer Entscheid oder ist das Gefühl, einem anderen Menschen nicht gerecht werden zu können und daher darauf zu verzichten, stärker?
- War Adoption jemals ein Thema?
- Früher hatte man einfach Kinder. Heute ist es oft ein bewusster Entscheid. Inwiefern haben dies Familien und die Gesellschaft verändert?
- Hattest du einen “Plan B”, wenn das Kinderkriegen nicht geklappt hätte?
- Ist Kinderkriegen eine moralische Pflicht?
- Vermehrt man mit Kindern das Glück auf der Welt oder das Leiden?
- Inwiefern war der Gedanke des Alleinseins im Alter bei der Entscheidung zum Kinderkriegen präsent?
- Wie würdest du womöglich dein Leben heute führen, wenn du keine Kinder hättest?
- Falls das Kinderkriegen ein bewusster Entscheid war, aufgrund welcher Gedanken/Gefühle/Kriterien hast du ihn gefällt?
- Ist Kinderkriegen auch eine Art “Selbstverwirklichung”? Falls ja, ist das «fair», da ein anderer Mensch davon betroffen ist?
- Inwiefern hat sich das Glück(-sempfinden) mit einem Kind verändert?
- Inwiefern hat sich das Freiheitsempfinden mit einem Kind verändert?
- Kinder sind «ein Plan fürs Leben» und geben Orientierung: Ist dieses Gefühl befreiend oder beklemmend?
- Kinder verändern den Fokus/die Prioritäten: Fühlt sich dies angenehm/bereichernd an oder einschränkend?
- Würdest du dich ebenso entschieden für/gegen Kinder, wenn die Entscheidung und Verantwortung ganz bei dir alleine liegen würde?
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 1. November 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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