Meister der Manipulation – über das Leben mit einem Narzissten
Erst wird sie mit Liebe überschüttet, dann ist sie plötzlich nichts mehr wert: die Geschichte von Clara.
Clara starrt auf das aufgeschlagene Buch und versucht, das Herzrasen zu stoppen. Hände auf den Bauch legen, langsam dort hinunter atmen, tausendfach geübt. Endlich kann sie das Buch zuklappen – «Meine Schulfreunde» steht in Glitzerschrift auf pinkem Untergrund. Ihre achtjährige Tochter hatte sie gebeten, sich einzutragen, Fragen nach Lieblingstier, Lieblingsfarbe, Lieblingslied zu beantworten. Clara schafft es nicht.
Wenn sie die Buchseiten anschaut und die Frage nach dem Lieblingslied sieht, bricht in ihr ein Gedankentornado los. Weil sie zwar in einem ersten Impuls ein Lied wüsste, das ihr sehr gefällt, aber sofort auch die inneren Stimmen anschwellen, die sie anraunzen, was denn das für ein seltsames Lied sei; dass sie nicht einmal so eine Frage beantworten könne, ohne sich lächerlich zu machen. Der Tornado gewinnt an Stärke, die Stimmen werden lauter und fieser, bringen ihr Herz zum Rasen.
Jetzt sieht sie es.
Ohne ihn sei ich ein Nichts, sagt er mir seit Jahren.
«Und nun stimmt es, er hat sein Ziel erreicht. Ich kann nicht mehr eigenständig denken und handeln. Ich fühle mich wie ein Geist.»
Eigentlich würde sie gerne weinen, schreien, wüten, doch die Kraft für solche Gefühlswallungen ist längst entschwunden. Also legt sie sich mitten im Zimmer auf den Boden, schliesst die Augen und lotet ihre Alternativen aus: In dieser Ehe bleiben und sich selbst endgültig aufgeben. Oder gehen und versuchen, sich wiederzufinden. In ihrem Kopf hört sie sein höhnisches Lachen über Option zwei.
Ein Funken Energie ist noch da, sie will es versuchen.
Ist der eigene Mann ein Narzisst?
Schon seit Jahren ahnt Clara, dass bei ihrem Mann psychologisch irgendetwas anders ist. In einer Zeitschrift war ihr der Begriff Narzissmus begegnet, sie wollte kurz herausfinden, was genau man darunter versteht – und versank mehrere Stunden im Internet, verschlang Beispiel um Beispiel. «Es klingt unverständlich, aus heutiger Sicht. Ich las all diese Beschreibungen von Situationen, die meinen Erlebnissen so ähnlich waren. Aber ich grenzte mich innerlich davon ab, dass mein geliebter Mann ein Narzisst sein könnte.»
Jeder Mensch hat narzisstische Züge, Selbstbezogenheit ist in einem begrenzten Mass durchaus gesund. Wenn gewisse Verhaltensweisen besonders häufig oder intensiv auftreten, kann dies auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hindeuten.
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Pathologischer Narzissmus äussert sich häufig durch ein Gefühl der Grandiosität, solche Menschen schätzen ihre Bedeutung und Fähigkeiten übertrieben hoch ein. Entsprechend fantasieren sie von grenzenlosen Erfolgen, von Bewunderung, Macht und so weiter; das stehe ihnen zu, finden sie. Deshalb wollen sie auch bevorzugt behandelt werden und ihre Wünsche und Bedürfnisse zählen mehr als die von anderen.
Überheblichkeit, Rechthaberei und Arroganz gehören oft zu ihrem Auftreten. Und weil sie sich als einzigartig sehen, umgeben sie sich am liebsten mit Menschen, denen sie ein ähnlich hohes Niveau attestieren. Gleichzeitig sind Kritikfähigkeit, Selbstreflexion und Empathie inexistent.
Selbstüberschätzung und Grössenwahn
Warum sich krankhafte Narzisstinnen und Narzissten so verhalten? Sie haben Schwierigkeiten mit der Selbstwertregulierung, es gibt für sie nur zwei Pole: entweder fühlt man sich grandios oder grauenhaft. Die innere Instabilität wird kompensiert mit Selbstüberschätzung bis zum Grössenwahn, eine Schutzmassnahme. Und was noch mehr hilft: andere zu erniedrigen und zu destabilisieren, eine Projektion der eigenen Hilflosigkeit und Zerrüttung.
Deshalb sind Narzissten Meister der Manipulation.
Claras Mann ist eloquent, beruflich angesehen, attraktiv. Als er sich vor 15 Jahren für sie interessiert, ist die damals 24-Jährige geschmeichelt.
Ich war kein Mauerblümchen, das nach Aufmerksamkeit gierte.
«Es wäre zu einfach, alles Spätere damit zu erklären, dass ich einfach leicht zu manipulieren war. Das trifft nicht zu.» Clara lässt sich vom 30-Jährigen umwerben, geniesst seine Geschenke, seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Wenn sie eine Aktivität vorschlägt, hat er immer Zeit, ist fokussiert, zückt das Smartphone bei gemeinsamen Unternehmungen nur, um sie zu fotografieren. Er hievte sie auf einen Thron – ein vermeintlicher Traumprinz.
Dass man in der Verliebtheitsphase überschäumt vor positiven Emotionen, ist klar. Die Intensität ist mit Narzissten noch einige Stufen höher. Love Bombing nennt sich das – die martialische Konnotation ist nicht zufällig.
Das Endergebnis ist verheerend.
Kleine Nadelstiche sind der Anfang
Nach vier Monaten voller Liebessalven kommt es zu kleinen irritierenden Ereignissen. Das Paar will an einen Anlass, Clara erntet Stirnrunzeln und die Frage, ob sie tatsächlich in dieser Aufmachung loswill. Als sie ihre Lieblingsserie guckt, macht er Sprüche über den Geisteszustand von Menschen, die sich sowas reinziehen. Und als sie ihm eines Morgens einen Kaffee hinstellt, mault er über ihre Vergesslichkeit, weil er kürzlich gesagt habe, er möge nun lieber Tee.
«Ich war schon in einigen Beziehungen und weiss, dass irgendwann der Alltag einkehrt und man einander nicht permanent mit der rosaroten Brille betrachtet. Mich hat nur überrumpelt, dass ich zuerst so verehrt wurde und dann plötzlich vieles an mir störend war. Fast täglich kam etwas Neues hinzu.»
Kleine Nadelstiche, die den Selbstwert langsam schwächen.
Liebesentzug des Narzissten
Clara denkt sich, ihr Liebster sei halt etwas eigen. Deshalb habe er auch keine engen Freunde. «Er hat mir oft gesagt, ich sei die einzige Person, die ihn wirklich verstehe. Das schmeichelt, setzt allerdings auch Druck auf.» Sie glaubt, sie müsse ihn nur besser lesen und für mehr Entspannung sorgen. Die Erinnerungen an die traumhafte Anfangszeit lassen Clara glauben, das Jetzt sei lediglich ein Zwischentief.
Fachleute sprechen von einer Art Sucht, die das Love Bombing verursacht. Und entsprechend gerät man durch den abrupten Liebesentzug des Narzissten und die unerwarteten Attacken in einen Schockzustand, in dem rationales Denken schwerfällt.
«Ich bin wie paralysiert, hinterfrage mich permanent: Habe ich mich wirklich so peinlich aufgeführt beim Geschäftsanlass? Bin ich tatsächlich zu verschwenderisch beim Kochen? Warum hat mir niemand je gesagt, mein Lachen sei zu laut?»
Sich zu hinterfragen, ist eine wertvolle Eigenschaft – in einer Beziehung mit krankhaft narzisstischen Personen jedoch spielt sie den Manipulatoren in die Hände.
Als der Liebste zunehmend an Claras Freundeskreis etwas auszusetzen hat, die eine Freundin als egozentrisch und die andere als zu oberflächlich taxiert, nimmt sie diese Rückmeldungen ernst. Getarnt als Fürsorge, treibt er einen Keil zwischen Clara und ihr Umfeld, isoliert sie von anderen Einflüssen.
Dann kommen Lügen hinzu: «Einmal spricht er von den Azoren als Reiseziel für den nächsten Urlaub. Am nächsten Tag bringe ich einen Reiseführer nach Hause und er macht mich zur Schnecke. Fragt, wie ich auf die Idee käme, dass wir uns so teure Ferien gönnen. Ich hätte da etwas komplett falsch verstanden.» Solche angeblichen Missverständnisse häufen sich, Clara zermartert sich das Hirn, sie traut ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr.
Bin ich verrückt?
Nach aussen ist ihr Partner ein Traumtyp. Wenn sie mit anderen unterwegs sind, ist er fröhlich, entspannt, herzlich. «Aber wenn wir wieder allein sind, kommt die verbale Klatsche.»
Wie viele Betroffene beginnt Clara, Dinge aufzuschreiben. Das nützt nichts. Auch Tonaufnahmen von Gesprächen akzeptiert er nicht als Beweis – es gibt immer eine Begründung, weshalb er recht hat und Clara die Blöde ist. «Als gesunder Mensch denkst du nicht daran, dass dein Gegenüber dich destabilisieren möchte. Sondern suchst Rechtfertigungen für sein Verhalten.»
Gelegentlich ist Clara fast so weit, dass sie den Narzissten verlässt. Zum Beispiel, als sie eine Fehlgeburt erleidet und er sie nicht in den Arm nimmt, sondern ihr die Schuld dafür zuschiebt. Was er ohnehin immer tut, wenn sie krank ist.
Die Hoffnung, alles werde wieder gut
Wenn sie konkreter an eine Trennung denkt, zeigt er ein Fitzelchen seines früheren Verhaltens. Er entschuldigt sich, auch wenn seine Worte eher wie Schuldzuweisungen klingen, etwa: «Es tut mir leid, dass du das so empfindest.» Er flicht ein wortreiches Reuekränzchen für ein Verhalten, das sich danach sofort wieder zeigt. Oder er umwirbt Clara kurzzeitig wieder intensiv. Hoovering heissen solche Manipulations-Massnahmen, die suggerieren, alles könne werden wie am Anfang.
Immer wieder lässt sich Clara einwickeln und schöpft Hoffnung. Sie initiiert eine Paartherapie, er kommt sogar einigermassen bereitwillig mit, findet jedoch rasch einen Grund zum Abbrechen: Ein Therapeut, der selbst geschieden sei, tauge nicht als Paarberater.
Claras Hoffnung stirbt just bei einer Geburt.
Keine Empathie in Extremsituationen
Das Paar erwartet Zwillinge – was er als Sonderleistung seiner Spermien sieht, wohingegen die frühere Fehlgeburt Claras Schuld war. «Während der zwölfstündigen Wehen starrt er im Gebärsaal aufs Smartphone und zeigt keinerlei Fürsorge oder Hilfsbereitschaft. Er findet, ich solle eine PDA machen lassen oder am besten gleich einen Kaiserschnitt. In so einer Extremsituation keine Empathie zu zeigen: Da weiss ich, ich müsste eigentlich gehen.»
Auch im Wochenbett ist Clara auf sich allein gestellt, und hat lange keine Kraft mehr für eine Trennung. Der Alltag mit Kleinkindern und seine ständigen verbalen Attacken laugen sie aus. Irgendwie vergehen weitere acht Jahre. Die Zwillinge sind jetzt Schulkinder, die Familie lebt in einer grossen Wohnung an exklusiver Lage.
Nach aussen: alles wunderbar. Innen: täglicher Terror.
«Ich kann nichts richtig machen: Wie ich aussehe, spreche, handle – alles falsch. Und das mit höchst despektierlichen Worten vermittelt. Die falsche Serviettenfarbe auszuwählen, führt sofort zu Aussagen, ich sei untragbar, man dürfe mir keine Kinder anvertrauen und so weiter.»
Auf Tiktok existieren Videos, in denen Betroffene zeigen, für welche Kleinigkeiten sie übelst beschimpft wurden: das Licht anmachen, ein Fenster öffnen, sich verschlucken et cetera. Es tut Clara gut, sich das anzusehen und zu wissen: Andere können sich auch nicht wehren. Also flüchtet sie immer öfter in die virtuelle Welt und fühlt sich dann weniger allein.
Angst, alles zu verlieren
Claras Körper rebelliert: Hautausschläge, tiefe Eisenwerte, Erschöpfungsdepression. Psychische Gewalt hinterlässt keine blauen Flecken, oftmals gibt es dennoch deutliche Alarmsignale. Das hilft nicht gerade dabei, Kraft zu schöpfen und sich aus diesem toxischen Strudel zu befreien.
Und da ist natürlich auch die Angst, alles zu verlieren. «Wohlstand und Ansehen sind mir nicht wichtig, aber die Kinder. Wenn dir jemand acht Jahre lang sagt, du gehörst in eine Klinik und seist eine furchtbare Mutter, dann glaubst du das. Und befürchtest, im Trennungsfall keine Chance zu haben.»
Tatsächlich braucht es einen hohen Leidensdruck, bis Menschen sich aus solchen Beziehungen lösen können – und viele Anläufe. Wenn nur die geringsten Zweifel bestehen, schafft man es nicht. Denn immer wieder kommt das Hoovering zum Einsatz, und Entmutigungen von aussen. Clara vertraut sich einige Male anderen Frauen an, einmal sogar ihrer Gynäkologin – und hört stets Sätze wie: «Jede Beziehung hat Krisenmomente, und Ihre wirkt doch mehrheitlich glücklich.»
Beim vierten Anlauf schafft Clara den Absprung.
Endlich kein Geist mehr sein
Die Trennung läuft erstaunlich gesittet ab. Jetzt kommt Clara zugute, was ihrem Mann so wichtig ist: ein tadelloses Bild nach aussen. Sie wird nicht finanziell zugrunde gerichtet, das Sorgerecht ist geteilt. Die Kinder erleben erstmals elterliche Kommunikation ohne ständige Abwertungen ihrer Mutter, weil Clara die Übergaben absichtlich draussen arrangiert, unter Beobachtung der Öffentlichkeit.
Im Scheidungsverfahren spürt Clara endlich Verständnis: «Zuerst zeigt sich deutlich, dass die Fachpersonen meine Schilderungen anzweifeln. Nach mehreren Sitzungen erkennen sie, dass mein Ex nicht ein einziges Mal eine Entschuldigung ausspricht und auch schriftlich festgehaltene Vereinbarungen plötzlich wieder negiert.»
Es tut gut, bestätigt zu kriegen, dass ich nicht verrückt bin.
Die Trennung ist nun schon etwas länger her und Clara nicht mehr ständig wie auf Nadeln, doch die Angst vor einer plötzlichen Racheaktion lässt sie nicht los. Ihre Geschichte hat sie mir schon kurz nach der Trennung erzählt, aber erst jetzt möchte sie damit an die Öffentlichkeit gehen. Zu ihrem Schutz heisst sie im wahren Leben anders.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 20. Januar 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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