«Bis eine heult» – Wer diese Sprüche kennt, ist ein Boomer-Kind
Kinder der Boomer-Generation sind mit Sprüchen aufgewachsen, die die damaligen Glaubenssätze der Eltern spiegeln. Manche waren lustig, manche beschämend. Die Einstellung dahinter ist aber definitiv überholt.
Ein bestimmtes Trauma vereint viele Kinder der 80er- und 90er-Jahre: das der Innenraumbeleuchtung im Auto. «Nicht anschalten!», herrschten viele Eltern, na ja, vor allem Väter, ihre Kinder an, wenn sie sich am verlockenden Knöpfchen zu schaffen machten. Und noch heute meinen viele Erwachsene, es sei verboten oder zumindest gefährlich, mit laufender Innenraumbeleuchtung Auto zu fahren.
«Ich bin da echt jetzt noch paranoid, weil mein Vater immer so tat, als gäbe es grad sofort einen Unfall, wenn man dieses Licht anschaltet», schrieb eine 40-jährige Frau auf eine Kleinstadt-Instastory zu Boomer-Sprüchen. «Ich traue mich bis heute kaum, dieses Licht anzuzünden», schrieb eine andere. Zahlreiche andere Nutzer:innen pflichteten ihr bei.
It’s a thing!
Wer in den 80er- und 90er-Jahren Kind war, ist mit lauter Mythen aufgewachsen, vor allem aber mit vielen für Kinder damals total kryptischen Sprüchen.
In der Insta-Story haben wir zahllose dieser Boomer-Sprüche gesammelt und gemerkt, sie fallen in verschiedene Kategorien. Über manche muss ich heute, selber zweifache Mutter, schmunzeln. Andere empfinde ich als ziemlich folgenschwer und bedrohlich (wie das Auto-Beispiel).
Allen gemein ist, dass sie mehr oder weniger schonungslos wiedergeben, wie Eltern oder andere erwachsene Personen damals über Kinder dachten.
Manche Floskeln sind humorvoll und nachvollziehbar. Andere stimmen mich nachdenklich, und ich fange an zu erahnen, weshalb viele von uns heute Selbsthilfe-Bücher lesen und in Therapie gehen.
Fangen wir mit den harmloseren Boomer-Glaubenssätzen an:
Kinder schliessen nie die Tür
Es ist eine universelle Eltern-Erfahrung: Wenn es nach den Kindern ginge, bräuchte es offensichtlich keine Türen, oder zumindest keine Türfallen. Sie schlagen Türen entweder geräuschvoll zu – oder sie lassen sie einfach offen.
Auffallend viele Elternsprüche drehen sich wohl deshalb um die Türfrage. «Habt ihr Säcke/Vorhänge zu Hause?», «Bist du in einer Höhle/auf einem Feld/im Schilf/im Stall aufgewachsen?» (Angelsächsische Variante: «Were you born in a barn?»), «Habt ihr daheim einen Stein vor der Höhle?»
Oder, aus Sorge um die Innentemperatur:
Wir heizen hier nicht für die Spatzen.
Funktioniert nur beim Reinkommen: «Erwartest du noch jemanden?» Der Beste aber kommt aus Deutschland: «Sach mal, wohnen wir in der U-Bahn?» (wo sich die Türen selber schliessen). Das Pendant aus Italien: «Non viviamo al Colosseo!»
Kinder lassen immer das Licht an
Auch der Umgang mit Lichtschaltern will gelernt sein. Oder eben nicht. Licht ist für Kinder zum Anstellen da, nicht zum Ausschalten. Kein Wunder, haben es unsere Eltern irgendwann aus Verzweiflung mit Humor versucht (we feel you!): «Haben wir eigentlich ein Atomkraftwerk/Elektrizitätswerk gemietet?»
Kinder sind faul, unordentlich und vergesslich
Stell dir vor, du bist ein Kind aus den 80er-Jahren und hast deine Hausaufgaben zu Hause vergessen. Du drehst auf dem Schulweg um, rennst nach Hause, kommst ausser Atem daheim an, wo natürlich die Mutter wartet (es sind die 80er!). Statt Mitgefühl knallt sie dir diesen Spruch vor den Latz:
Wer keinen Kopf hat, hat Beine!
Eltern dachten damals offenbar noch, das würde helfen; Kinder müssten mit solchen Sprüchen abgehärtet werden, damit sie später besser im Leben bestehen können. Das Resultat war ein anderes. Ich zumindest fühlte mich einfach dumm, wenn ich sowas hörte: Ich hab’s wohl halt einfach nicht so im Kopf!
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Hilfreicher für mich als Beizenkind war das Credo meiner Eltern, «Nie leer laufen!» Noch heute versuche ich immer, wenn ich einen Raum verlasse, etwas mitzunehmen, was nicht dahin gehört.
Trotzdem spricht aus solchen Sprüchen ein strenges Arbeitsethos, und niemand muss sich wundern, sind so viele von uns heute leistungsorientiert bis zum Burnout. «Müesse macht möge!», war auch so ein Spruch, sinngemäss übersetzt: Erst wenn man muss, dann mag man auch.
Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!
Der fällt in dieselbe Kategorie: Wer hart genug arbeitet, wird auch Glück haben im Leben. Heute wissen wir, dass das eine Lüge ist – nicht alle, die sich anstrengen, werden auch belohnt.
Auch Unordnung wird Kindern quasi als schlechter Charakterzug ausgelegt: «Ihr lasst alles liegen, wie die Hühner den Dreck!», hörten Boomer-Kinder regelmässig. Oder auch: «Hier kann man ja bald Karotten/Kartoffeln anpflanzen!» (vor lauter Staub und Dreck).
Kinder haben nur Quatsch im Kopf und machen ständig alles falsch
«Finger ab dr Röschti!» Dieser Spruch ist sehr typisch schweizerisch (nicht nur wegen der Rösti): Kinder sollen nichts anfassen, am besten unsichtbar, leise und vor allem angepasst sein.
Dabei sind Kinder körperliche und sinnliche Wesen, und gerade früher achtete kaum jemand darauf, eine kinderfreundliche Umgebung zu schaffen, wo Kinder Sachen anfassen dürfen (noch heute teilweise in Museen so).
Auch sehr charmant: «Muul zueh, es zieht!», hiess es, wenn ein Kind gedankenverloren den Mund offen hielt.
Wer nicht in den Schlaf findet, «kann bei den Füchsen schlafen!» Ein vierjähriges Kind glaubt das tatsächlich und meint, dass es nachts allein in den Wald muss, wenn es nicht gleich einschläft. Solche Drohungen wirken – und das ist genau das Problem!
Bis eini grännet!
Das sagte unsere Mutter jeweils, wenn wir Schwestern besonders übermütig waren. Ich verstand damals nicht, weshalb sie schon von Anfang an das schlimme Ende heraufbeschwor.
Heute, selber Mutter zweier Jungs, die sich gern balgen, verstehe ich den Spruch, sage ihn aber nicht. Wir Eltern spüren schon frühzeitig, dass es unschön enden wird.
Entweder unterbrechen wir also das Spiel – oder wir lassen sie ihre eigenen Erfahrungen machen, (möglichst) ohne uns selbstzufrieden in unseren Befürchtungen bestätigt zu sehen. (Insgeheim den «I told you so»-Dance zu machen, ist ok.)
Kinder haben nichts zu wollen
«Dr Ig-wott isch scho lang gstorbe.», «Willi und Wetti sind Brüeder gsy.», «De Willi und de Wotti si i de Ferie.», «Dr Herr Wottli isch gstorbe.»
Eine ganze Batterie an Boomer-Sprüchen befasst sich damit, dass Kinder nicht wollen dürfen.
«Ich will» zu sagen, war in unserer Kindheit eine absolute Frechheit.
Wenn schon: «Ich möchte.» Und da wundern wir uns, dass wir später Mühe haben, unsere Bedürfnisse klar zu äussern…
Wer hingegen nicht wollte, war quasi selber schuld: «Wer nid wott, het gha» (wer nicht will, der/die hat schon) – verstand ich als Kind nie (irgendwie immer noch nicht).
Wenn es schliesslich um einen materiellen Wunsch ging, wurde nicht etwa erklärt, warum man etwas nicht kauft, sondern als Kind hörte man: «Wie söllemer das zahle? Mit Hosechnöpf?», und verstand vermutlich: nichts.
Kinder müssen aufessen
«Du weisst gar nicht, was Hunger ist!», «Wenn du nicht aufisst, wird das Wetter morgen nicht schön!/gibt’s kein Dessert!»
Denk an die Kinder in Afrika!
Sowas hörten wir Kinder, wenn wir nicht (auf-)essen wollten oder konnten. Unser teilweise gestörtes Verhältnis zum Essen lässt herzlich grüssen!
Heult leise, liebe Eltern!
Viele dieser Sprüche sind für Kinder schlicht unverständlich. Die darin verborgene Einstellung gegenüber Kindern hat sich trotzdem in unser Hirn eingebrannt. Trotz deren Grenzwertigkeit kann man sagen, wahrscheinlich versuchten Eltern früher (und auch noch heute), Kritik in Humor zu verpacken.
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Und der ist ja auch ein grossartiges Mittel, wenn man Kinder hat (ich glaube, ohne überlebt man es nicht unbeschadet). Unsere Eltern meinten es bestimmt gut, und sie waren vermutlich häufig genauso überfordert, wie wir es heute als Eltern auch noch sind. Wir wollen deshalb aus ihren Sprüchen kein Drama machen. Ach übrigens, auch so einer:
Mach kein Theater!
Rutscht uns selber manchmal ein Boomer-Spruch raus, sollten wir uns lediglich fragen, ob wir damit nicht eine Distanz zwischen uns und unseren Kindern erzeugen. Die kann hilfreich sein, wenn das Gesagte aus einer Grundhaltung der Liebe kommt und das Kind die Ironie verstehen kann: «Schreibst du mir eine Karte, wenn du oben angekommen bist?», wenn ein Kind in der Nase bohrt.
Distanz wird aber möglicherweise verhindern, dass sich das Kind von uns ernst genommen und mit ins Boot geholt fühlt. Verbundenheit hilft dem Kind viel eher, mit uns zu kooperieren.
Beziehung statt Erziehung. Authentizität statt Sprüche. Mitgefühl statt Scham. Erklären statt Lustigmachen. Augenhöhe statt Adultismus.
Und wenn ihr trotzdem zwischendurch verzweifelt, liebe Eltern: Heult leise!
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Veröffentlicht am 3. September 2024
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