Interview
«Eltern wursteln sich so durch, eine strukturelle Lösung fehlt»
14 Wochen Schulferien organisieren, Kita-Kosten stemmen, den Alltag wuppen: Familien lösen in der Schweiz systemische Probleme privat. Warum hinken wir bei der Vereinbarkeit so hinterher? Und welche Hebel haben Eltern mit eh schon wenig Schlaf und Zeit, um etwas zu ändern? Politologin Silja Häusermann im Gespräch.

Silja Häusermann, ich bin Mutter von zwei Kindern und engagiert im bezahlten Job. Wie die meisten Eltern hab ich alle Hände voll zu tun. Warum sollte mich Familienpolitik trotzdem interessieren?
Das Wesen der Politik ist ja, dass sie Regeln festlegt, die für alle gelten – das heisst, dass sie Probleme strukturell und nicht nur für den Einzelfall löst. Familie ist das beste Beispiel dafür, was das konkret bedeutet und was Politik leisten kann. Denn jede Familie kann für sich privat einen Weg durch diese Herausforderung von Betreuung, Vereinbarkeit und Zeitmanagement finden – aber der Aufwand ist dann eben bei jedem selbst und immer wieder zu leisten. Wenn man eine Lösung findet, die für eine ganze Gruppe eine Frage abnimmt oder ein Problem löst, dann ist das natürlich viel wirksamer.
Unser Sohn ist im Sommer in den Kindergarten gekommen. Als berufstätige Eltern fragen wir uns: 14 Wochen Schulferien. Wie sollen wir das bloss abdecken?
Das ist ein gutes Beispiel. Eine erste Hürde in der Politik ist immer, dass die Betroffenen merken, dass es nicht nur ein individuelles Problem ist und sie nicht schuld sind, weil sie zu wenig organisiert sind. Eltern in der Schweiz sind nicht einfach zu chaotisch, um das Familienleben und die Erwerbsarbeit zu organisieren. Die schwierige Vereinbarkeit von Arbeitszeiten, Ferienkalender, Stundenplänen, Freizeitangeboten und so weiter ist ein strukturelles, ungelöstes Problem, das für Familien viel Aufwand und Kosten schafft.
Die politischen Rahmenbedingungen für Familien in der Schweiz sind nicht ideal, aber in den letzten 20 bis 30 Jahren ist sehr viel in Bewegung gekommen.
Wenn ich an Familie und Politik denke, fallen mir Begriffe ein wie Vereinbarkeit oder Kinderzulagen. Was regelt die Familienpolitik in der Schweiz alles?
Familienpolitik ist tatsächlich kein klar abgegrenztes Feld, aber es betrifft alle staatlichen Regeln, welche die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Situation der Familien betreffen. Da zählen zum Beispiel Scheidungsrecht oder Eherecht dazu. Sorgerechtsfragen sind auch ein grosser Teil, weil es bei Kindern um verletzliche und unmündige Menschen geht. Die Politik muss via Rechtsetzung dafür sorgen, dass ihre Interessen geschützt sind.
Grundsätzlich geht es ja häufig um die finanzielle Unterstützung – oder irre ich mich?
Ja, die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte sind auch ein grosser Teil. Wir wissen alle: Eine Familie zu haben, geht mit vielen Zusatzkosten einher. Kinder zu haben, Kinder zu betreuen, ist eine Tätigkeit, die auch einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat. Deshalb gibt es politische Diskussionen darüber, welche Kosten privat getragen werden sollen und wo staatliche Unterstützung angemessen ist, um diese gesamtgesellschaftlichen Ziele zu unterstützen. Ich muss sagen: Die politischen Rahmenbedingungen für Familien in der Schweiz sind nicht ideal, aber in den letzten 20 bis 30 Jahren ist sehr viel in Bewegung gekommen. Ich denke da zum Beispiel an den Mutterschutz oder auch den Vaterschaftsurlaub.
Insbesondere in der Vereinbarkeitspolitik hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich stark hinterher. Warum?
Ich würde sagen, es gibt drei Hauptgründe: Der erste Grund ist kultureller Natur. Die Schweizer Bevölkerung hat in diesen Fragen im Durchschnitt konservativere Wertvorstellungen und liberalere Vorstellungen zur Rolle des Staates als in den meisten umliegenden Ländern. Das betrifft Fragen wie: Wie viel familienergänzende Betreuung bewerten wir als Gesellschaft für unsere Kinder als ideal? Sehen wir die Kita als Ort, wo unsere Kinder hin müssen, weil die Eltern arbeiten? Oder sehen wir die Betreuung durch Fachpersonal zusammen mit anderen Kindern als einen Mehrwert für das Kind? Mit Blick auf solche gesellschaftlichen Normen ist die Schweiz sicher im Schnitt konservativer als andere Länder.
In der Schweiz ist das Lohnniveau nach wie vor so hoch, dass viele Familien von einem oder eineinhalb Löhnen leben können.
Die Antworten auf solche Fragen fallen wohl je nach Region unterschiedlich aus.
Ja, diesen Stadt–Land-Graben sehen wir ja bei jeder Volksabstimmung. Und da wären wir auch schon beim zweiten Grund. Bei Vereinbarkeitsthemen ist eine Zersplitterung in Gemeinden und Kantone zu sehen – wegen dem Föderalismus gibt es keine übergreifende Strategie. Bleiben wir als Beispiel bei der Frage nach der familienergänzenden Betreuung von Kindern. In grösseren Städten ist das Platzangebot an Betreuungsplätzen nicht mehr das Problem. Wir haben aber kleine Gemeinden, wo es viel zu wenig Plätze gibt. Andererseits bietet der Föderalismus auch Chancen. Nämlich die, dass gewisse Kantone vorangehen und so eine Entwicklung mit sich ziehen können.
Und der dritte Grund?
In der Schweiz ist das Lohnniveau nach wie vor so hoch, dass viele Familien von einem oder eineinhalb Löhnen leben können. Natürlich gibt es Familien mit tieferen Einkommen, bei denen beide Elternteile aus wirtschaftlichen Gründen viel oder voll arbeiten. Aber in der Mittelschicht gibt es einen Entscheidungsspielraum, ob ein Elternteil – meist die Mutter – 20 oder 60 oder 80 Prozent erwerbstätig sein soll, und wie die Erwerbsarbeit zwischen den Eltern aufgeteilt wird. Das liegt daran, dass es überhaupt möglich ist, mit einem oder eineinhalb Einkommen zu leben. Das ist in vielen anderen Ländern nicht der Fall.
Es würde niemandem einfallen, für Kindergarten oder Primarschule Geld zu verlangen. Der Blick auf Kita-Tage ist ein anderer.
Aber viele Familien kämpfen finanziell. Die Mieten, die Krankenkassenprämien – alles wird teurer. Kommt das in der Politik an?
Ja, ich denke schon. Das Bewusstsein für die steigenden Lebenshaltungskosten für Familien ist da. Da gibt es ja auch sehr viele politische Vorstösse, zum Beispiel die diversen Initiativen für Prämienentlastung oder im Bereich der Wohnpolitik. Aber gerade Kinderbetreuungskosten gelten in bürgerlichen und auch liberalen politischen Kreisen oft nicht als Teil der Grundversorgung, also einer grundlegenden gesellschaftlichen Infrastruktur.
Wie meinen Sie das?
Es würde niemandem einfallen, für Kindergarten oder Primarschule Geld zu verlangen. Der Blick auf Kita-Tage ist ein anderer.
Warum sind die Kosten für die Fremdbetreuung bei uns eigentlich so viel höher als im Ausland?
Die Kosten sind für Familien deshalb so hoch, weil sie viel weniger vom Staat mit-finanziert werden. Ich habe mit meiner Familie ein Jahr in Berlin gelebt und 90 Euro im Monat bezahlt für einen Hort-Platz pro Kind – das kostet dort natürlich auch viel mehr, wird aber weitgehend über Steuern bezahlt, weil es quasi als Teil eines normalen Schulalltags gilt. In der Schweiz ist das nicht der Fall.
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Mein Eindruck ist, dass die Politik die Anliegen von Rentnerinnen und Rentnern viel mehr auf dem Radar hat, als jene von jungen Familien.
Das stimmt. Das ist auch in anderen Ländern zu beobachten. Die meisten Länder geben zwei- bis dreimal so viel Geld für Renten aus wie für Familien- und Bildungspolitik. Nur in den skandinavischen Ländern ist das etwa ausgeglichen.
Bräuchten wir nicht einfach mehr jüngere Menschen in der Politik? Menschen, die wissen, wie der Alltag von Familien läuft und wo der Schuh drückt?
Das wäre ein Ansatz. Aktuell sind die Interessen der älteren Generation politisch besser vertreten. Eltern sind häufig zu beschäftigt für politisches Engagement. Und wenn der Stress abnimmt, verschwindet das unmittelbare Problem. Darum ist es bei Elternthemen häufig so – man organisiert sich irgendwie, wurstelt sich durch, aber es gibt keine strukturelle Lösung. Mit den Kita-Kosten zum Beispiel ist das pro Kind für ein bis vier Jahre ein grosser Kostenfaktor, und nachher ist es vorbei. Ihr Beispiel vorhin mit den Schulferien ist für Sie gerade akut – dann finden Sie eine Lösung für sich, weil Sie es einfach müssen, und wenn Ihre Kinder älter sind, ist der Problemdruck wieder weg – oder zumindest ein anderer. Deshalb geht es nicht nur um die Mobilisierung der Betroffenen selber, sondern es braucht politische Parteien, die Familienpolitik – im Namen der Betroffenen – priorisieren.
Der grössere Frauenanteil im Parlament hat sehr zur Sichtbarkeit von familienpolitischen Themen beigetragen.
Welchen Einfluss hat der höhere Frauenanteil im Parlament? Nach dem grossen Frauenstreik im Jahr 2019 gab’s ja die sogenannte Frauenwahl: Seither sind über ein Drittel der Mitglieder im National- und Ständerat weiblich.
Der grössere Frauenanteil im Parlament hat sehr zur Sichtbarkeit von familienpolitischen Themen beigetragen. Die Kita-Initiative zum Beispiel wurde in diesem Zusammenhang lanciert. Die Forschung zeigt, dass mehr Frauen im Parlament zu mehr Aufmerksamkeit für Familienpolitik führen.
Warum bringen die Männer denn die Familien-Perspektive nicht in die Politik?
Es geht weniger um einzelne Männer und Frauen. Ein steigender Frauenanteil im Parlament ist meistens auch Ausdruck einer politischen Stärkung von Parteien links der Mitte, weil diese viel mehr Politikerinnen stellen. Diese politischen, ideologischen Unterschiede sind wichtiger als der eigentliche Geschlechter-Unterschied. Verkürzt gesagt: Ein linker Politiker setzt sich im Schnitt stärker für eine expansive Familienpolitik ein als eine rechte Politikerin.
Wir haben einen Geburtenrückgang, immer mehr Menschen überlegen sich zweimal, ob sie Kinder kriegen sollen. Als Gesellschaft haben wir ein grosses Interesse an Nachwuchs. Schafft das keine Dringlichkeit für Familienanliegen?
Politisch befinden wir uns in der Schweiz eher noch in der «10-Millionen-Schweiz»-Diskussion – und nicht in der Schrumpfungs-Diskussion. Die Folgen der tiefen Geburtenrate sind für den Einzelnen recht abstrakt und kurzfristig wenig spürbar.
Etwas grösser gedacht scheint mir aber, dass in der Schweiz die Männerrollen noch kaum thematisiert sind.
Wenn wir nach vorne blicken: Was ist strukturell die grösste Baustelle für Familien?
Familienpolitisch läuft gerade sehr viel, um Strukturen an veränderte Lebensrealitäten von Frauen anzupassen. Etwas grösser gedacht scheint mir aber, dass in der Schweiz die Männerrollen noch kaum thematisiert sind. Eine typische Frau in der Schweiz lebt heute komplett anders als vor wenigen Jahrzehnten. Bei den Männern ist alles ziemlich gleich – 42,5 Stunden pro Woche, von morgens früh bis abends spät. In Skandinavien oder den Niederlanden haben sich typische Rollenmodelle viel stärker angeglichen. Das verstärkt auch die Folgen für die Politik, zum Beispiel, dass ein regulärer Arbeitstag von 8 bis 16 Uhr dauert statt bis abends wie in der Schweiz. Die Vorstellungen von «normaler» Berufstätigkeit sind in der Schweiz noch sehr traditionell, das prägt auch die Familienpolitik, die sich auf dieses typische «1,5-Verdiener-Modell» ausrichtet.
Sie haben es ja vorhin angesprochen. Eltern haben häufig keine Zeit für politisches Engagement. Wo können Mütter und Väter mit wenig Ressourcen und Mitteln am meisten bewirken?
Man kann zum Beispiel direkt konkret in der eigenen Schule, im Elternrat etwas verbessern. Einen Mittagstisch zu gründen, ist auch politisch, weil man damit Strukturen für eine Gruppe schafft.
Das klingt in der Theorie sehr sinnvoll – ist aber für viele Eltern in der Realität schwer umsetzbar. Gibt es andere Hebel?
Für die grosse Politik muss es über Verbände, Parteien und Parlamente gehen, nicht über individuelle Aktionen. Eltern können sich über Plattformen wie Smartvote schlau machen und so Politikerinnen und Politiker wählen, die familienpolitische Themen in ihrem Sinn vorantreiben. Und dann können wir in der Schweiz ja viermal im Jahr abstimmen.
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Veröffentlicht am 27. November 2025.
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