Vereinbarkeit klappt in Schweden viel besser! Wirklich?
Schweden gilt als Vorzeigebeispiel in Sachen Gleichberechtigung und Vereinbarkeit. Doch ist im hohen Norden wirklich alles viel besser als in der Schweiz? Ein Vergleich.
Wir hören es ja alle immer mal wieder: Im hohen Norden ist alles besser als hier in der Schweiz. Bessere Vereinbarkeit, mehr Freizeit, engagierte Cappuccino-Dads, Frauen in Chefetagen und friedliche Sommertage in Bullerbü. Seit nun mehr als einem Jahr wohne ich mit meinem Mann und unserer zweijährigen Tochter in Schweden und kann tatsächlich in vielen Belangen zustimmen. Doch Moment: Es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Wir nehmen das schwedische System ein bisschen genauer unter die Lupe. Und so viel vorweg: Auch das Schweizer System hat seine Vorteile.
Die Elternzeit ist in Schweden viel länger als in der Schweiz!
Richtig. In Schweden stehen den Eltern insgesamt 490 Tage Elternzeit zu. Wie sie die Tage aufteilen? Frei gewählt. Das System regt finanziell dazu an, dass die Väter mindestens drei Monate beziehen. 490 Tage! Das sind knapp 1.5 Jahre. Ein wuchtiger Vergleich zu den mickrigen 14 Wochen für Mütter und 2 Wochen für die Väter im Schweizer System.
Jetzt kommt aber die Krux und ein grosser Argumentationsfehler, den wir in der Schweiz begehen, wenn wir (oder gewisse Parteien) behaupten, dass wir uns das als Gesellschaft nicht leisten können: Während diesen 490 Tagen wird nicht der volle Lohn ausgezahlt. Und in der Regel auch nicht 80 Prozent des Lohns wie in der Schweiz, denn der staatlich festgelegte Maximalbetrag entspricht für die meisten Arbeitnehmenden weniger als 80 Prozent ihres Lohns. Zudem: 120 Tage der bezahlten Elternzeit werden derart tief entschädigt, dass es sich finanziell eigentlich ganz und gar nicht lohnt, diese Tage zu beziehen und auf den regulären Lohn zu verzichten.
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Und dennoch: Die offiziellen Elternzeittage geben den Eltern die Flexibilität und Legitimation bei der Arbeitgeberin, Zeit mit der Familie zu verbringen. Sie kommen sozusagen unbezahltem Urlaub gleich, der nicht verweigert werden darf. Im Übrigen können gewisse Tage einzeln und bis zum 12. Lebensjahr des Kindes bezogen werden. Das heisst, es gibt unzählige Varianten, wie die Elternzeit gelebt wird: 1.5 Jahre am Stück, einmal er, einmal sie. Oder nur ein Jahr am Stück und dafür die darauffolgenden Jahre immer mal wieder einzelne Tage oder Wochen, um beispielsweise die Sommerferien zu verlängern.
Auch wenn die Mütter mehr Elternzeit beziehen, sind die Männer in der Regel engagierter, da sie selbst mehrere Wochen oder gar Monate tagsüber alleine für den Nachwuchs verantwortlich sind und demnach wissen, mit welchen Herausforderungen das verbunden ist. In diesen Belangen hat Schweden die Nase definitiv vorne.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Die Kita kostet in Schweden fast nichts!
Richtig. Fünf Tage Kita in der Woche kosten in Schweden monatlich etwa so viel wie ein einziger Kita-Tag in der Schweiz. Ja, das ist kaum zu glauben. Und ja, die Steuerabgaben sind entsprechend höher in Schweden (je nach Einkommen zwischen 30 und 50 Prozent). Die meisten Kinder besuchen ab dem ersten Geburtstag oder nach spätestens 18 Monaten (Wir erinnern uns: So lange dauert die Elternzeit) fünf Tage die Woche die Förskola (also Vorschule), wie die Kita in Schweden heisst.
Allen, die nun entsetzt rufen “Wieso hat man denn Kinder, wenn man sie die ganze Zeit fremdbetreuen lässt?!”, möchte ich Folgendes entgegenhalten: Während die Schweizer Kita-Tage aufgrund der enorm hohen Kosten oft bis zur letzten Minute ausgenutzt werden, sind die schwedischen Kitas und Eltern um einiges entspannter. So arbeiten viele Paare beispielsweise je 80 Prozent auf fünf Tage verteilt, haben so kürzere Arbeitstage und können ihre Kinder erst um 9 Uhr morgens in die Kita bringen oder eben bereits um 15.30 Uhr wieder abholen. Die Kita-Tage sind für die Kinder also kürzer, und die Eltern sehen ihre Sprösslinge am Nachmittag länger als nur noch rasch zum Abendessen. Die Quality-Time steigt; das Stresslevel sinkt.
Im Übrigen dauert die Vorschule bis zum sechsten Lebensjahr und ist freiwillig. Die Eltern kreieren den Stundenplan via mobiler App selbst – inklusive frei gewählter Ferientage. Danach folgt eine spielerische Einschulungsklasse, bevor 7-jährig dann die offizielle Schulzeit beginnt. Die Eltern müssen sich also nicht wie in der Schweiz mit dem mühsamen Hin und Her zwischen Hort und Kindergarten beschäftigen. Die Kinder sind in der Förskola versorgt, folgen einem staatlich vorgegebenen Lehrplan und bleiben so lange, wie die Eltern es festlegen. In den Schulen existiert übrigens ebenfalls ein Modell mit Betreuung am Mittag sowie am Nachmittag nach dem offiziellen Unterricht.
Männer und Frauen sind in Schweden gleichberechtigt!
Ja, Papas sind in der Öffentlichkeit präsenter als in der Schweiz. Und ja, die meisten Mütter arbeiten hochprozentig. Denn: Das System ist darauf ausgelegt, dass beide Elternteile arbeiten. In Schweden gilt die Individualbesteuerung und jede Einzelperson muss ihre Rente selbst verdienen. Die Gleichberechtigung ist in Schweden weiter fortgeschritten als in der Schweiz.
Und doch erledigen die Frauen in der Regel mehr Care-Arbeit, Haushaltsaufgaben und haben den Kopf voll mit Arztterminen, Geburtstagsgeschenken und anderen Familien-To-Dos. Mental Load, ihr kennt es ja. Eine Studie der Folkhälsomyndigheten bestätigte 2022 demnach auch, dass Frauen zwischen 30 und 44 Jahren gestresster sind als Männer (22% vs. 15%). So bestätigt auch eine Studie der Försäkringskassa, dass vier von fünf Burn-out-Fällen in Schweden Frauen betreffen. Oft seien diese in ihren Vierzigern und: berufstätige Mütter.
Viele Frauen sind also doppelt belastet und es überrascht daher eigentlich nicht, dass es in Schweden mittlerweile eine Gruppierung gibt, die sich zunehmend das traditionelle Einernährer-und-Hausfrauen-Modell wünscht – dies gemäss einer Gender-Forscherin mitunter auch, da die Hausfrauenrolle in den sozialen Medien romantisiert wird.
Dass beide Elternteile arbeiten müssen, führt einerseits zu mehr Frauen im Arbeitsmarkt (und in Chefetagen), aber eben auch zu einer geringen Wahlfreiheit. Die Familien können es sich finanziell meist nicht leisten, dass jemand zu Hause bei den Kindern bleibt und tiefere Pensen als 80 Prozent sind in Schweden mehrheitlich unüblich. Je nachdem, welches Modell sich eine Familie wünscht, ist die Schweiz hier im Vorteil.
Was ist uns denn eigentlich wichtiger?
Wer ein paar der Fakten kennt, merkt also schnell: Die beiden Systeme lassen sich nicht 1:1 vergleichen und schon gar nicht gänzlich kopieren. Dennoch: Für mich fühlt es sich als junge Familie in Schweden entspannter an als in der Schweiz. Wir verbringen trotz fünf Tagen Kita mehr Zeit miteinander, da wir oft bereits um 16.00 oder 16.30 Uhr vom Erwerbsleben ins Familienleben “wechseln” und auch mal spontan unter der Woche einen Tag mit unserer Tochter verbringen können.
Dennoch wage ich zu behaupten, dass unsere Familie, die sich übrigens etwa im oberen, akademischen Schweizer Mittelstand befindet, in der Schweiz trotz der hohen Betreuungskosten finanziell wohl besser gerüstet wäre. Denn: Das Lohnniveau ist in der Schweiz insgesamt viel höher und die Steuerabgaben tiefer als in Schweden. Auch wenn das Leben in der Schweiz teuer ist, profitieren die durchschnittlichen Schweizer:innen von einer insgesamt höheren Kaufkraft.
Im Endeffekt müssen sich Familien in beiden Systemen also überlegen, was denn im momentanen Lebensabschnitt wichtiger ist. Zeit mit der Familie und ein entspannteres Verhältnis am Arbeitsplatz? Finanzielle Absicherung und höhere Kaufkraft? Gleichberechtigte Aufteilung der Care- und Erwerbsarbeit oder lieber ein traditionelles Modell und dafür weniger Einkommen? Michelle Obama sagte einmal ziemlich treffend: “You can have it all – but not at the same time.”
Auch wenn sich das schwedische Modell nicht direkt auf die Schweiz übertragen lässt, bin ich überzeugt, dass wir vom familienfreundlichen nordischen System etwas lernen können. So würden eine höhere staatliche Subventionierung von Betreuungsangeboten, anständige Löhne fürs Betreuungspersonal, verständnisvollere Arbeitgeberinnen (Sichwort keine Sitzungen vor 9 und nach 16 Uhr) und eine längere, geteilte Elternzeit einen grossen Beitrag zu mehr Gleichberechtigung und gesunden Eltern leisten. Eltern, die sich ohne Druck für jenes Modell entscheiden können, das am besten zu ihrer Familie passt.
Lasst uns gemeinsam dafür kämpfen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 19. Oktober 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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