Wie geht Alltag mit Krücken und Kleinkind?
An Krücken zu laufen, ist mühsam. An Krücken laufen und gleichzeitig ein Kleinkind betreuen? Eine Herausforderung. Ein Erfahrungsbericht mit Tipps.
«Ihr Knie muss operiert werden. Danach brauchen Sie für sechs Wochen Krücken. Sie sollten es nicht aufschieben.» In meinem Kopf rauscht es. Ich denke nicht an die Operation, nicht an mögliche Schmerzen. Kurz kommen mir die Ferien in den Sinn, die damit wohl gestrichen sind. Vor allem aber denke ich: Mist! Wie soll das gehen?
Krücken mit einem Kleinkind?
Krücken zu haben, ist eh blöd – aber mit einer Anderthalbjährigen? Die zielstrebig überallhin rennt, wo es sie gerade hinzieht? Die dabei aber kein Gespür für Gefahren hat und Vollgas auf Stufen und Strassen zusteuert?
«Schlafen Sie drüber und halten Sie Familienrat», rät mir mein Arzt zum Abschied.
Ich habe schon früher Krückstöcke gebraucht. Doch da wohnte ich noch bei meinen Eltern und musste mich um vieles nicht kümmern. Das ist heute ganz anders. Schnell kommen die ersten Fragen auf:
- Ist es irgendwie geregelt, wenn ein Elternteil ins Spital muss und seine Betreuungspflichten nicht wahrnehmen kann?
- Kommt irgendwer dafür auf, wenn ich eine Haushaltshilfe brauche?
- Und wie zur Hölle erkläre ich meiner Tochter, was hier abgeht?
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Der OP-Termin steht. Und zwingt mich zum Organisieren.
So mitten in der Sommerzeit fällt die OP sowohl bei mir als auch bei meinem Mann in die beste aller schlechten Zeiten: Ich übergebe bei der Arbeit das Nötige, mein Mann kann zeitweise reduzieren und mehr von zu Hause aus arbeiten.
Es gibt in der Schweiz keine allgemeingültige Regelung, was passiert, wenn ein Elternteil krank oder verletzt ist. Ob das andere Elternteil frei nehmen kann und zudem eine Lohnfortzahlung erhält, muss mit dem Arbeitgeber individuell angeschaut werden.
Die Ferien sind also abgeblasen, ich buche zusätzliche Kita-Tage für unsere Tochter und eine Haushaltshilfe. An diese zahlt übrigens meine Zusatzversicherung einen Beitrag, der nicht mal für eine Stunde pro Einsatz reicht. Besser wäre es gewesen, wenn ich eine Taggeld-Versicherung für die «haushaltsführende Person» gehabt hätte.
Eine weitere Option, von der nicht genug Eltern wissen: Das Rote Kreuz unterstützt Familien in Notsituationen mit professioneller Kinderbetreuung zu Hause. So können Eltern entlastet und Kinder in ihrer gewohnten Umgebung betreut werden. Die Tarife sind dabei einkommensabhängig und durch Spendengelder mitfinanziert. Das gilt übrigens nicht nur für kranke, verunfallte oder erschöpfte Eltern, sondern auch für kranke und verunfallte Kinder. Die Betreuerinnen arbeiten mit Herzblut und sind auf Ausnahmesituationen zu Hause geschult. Mehr Infos findest du hier.
Ich werde operiert, laufe an Krücken.
Drei Tage nach der Operation und zurück zu Hause fühle ich mich in die Zeit als frischgebackene Mutter zurückversetzt: Alles ist durch die Einschränkung der Krücken irgendwie sperrig und kompliziert.
Ich finde, dass einem als Mutter ein dritter Arm wachsen sollte. Zwar bin ich inzwischen einarmig schon ein Vollprofi: Kind auf dem einen Arm, Kochen mit dem anderen. Kinderwagen mit einer Hand schieben, schwere Türe mit der anderen öffnen. Kind mit einer Hand über den Kopf heben – okay, das ist gelogen.
Doch jetzt fehlen mir wegen der Krücken gleich beide Arme.
Dass ich im Haushalt nichts machen kann, darüber bin ich am Anfang nicht sehr traurig. Und die erste Zeit geniesse ich es auch, dass nicht ich diejenige bin, die nachts für unsere Tochter aufstehen muss, da ich im Dunkeln und mit Krücken dafür die schlechtere Wahl bin.
Aber recht schnell fühle ich mich eingeschränkt: Auf dem Boden spielen fällt flach, allein mit ihr aus dem Haus gehen, funktioniert nicht. Badi ist gestrichen. In die Kita bringen kann ich sie nicht, da ich weder den Kinderwagen stossen noch Autofahren kann.
Das Thema Mental Load bekommt eine völlig neue Komponente, wenn man etwas selbst dann nicht erledigen kann, wenn man es wollte. Zwischendurch gibt es auch mal richtig rote Köpfe auf beiden Seiten.
Doch wir finden einen Weg: Auf dem Sofa baue ich mit meiner Tochter Türme, wir schauen unendlich viele Büechli an und singen. Stolz trägt sie den Znüni selbst zum Tisch. Ich finde heraus, dass man ziemlich viel unter dem Kinn einklemmen und so durch die Wohnung tragen kann. Auch ein Rucksack hilft beim Einsammeln von Kleinkram.
Und Freundinnen holen mich und meine Tochter in der Wohnung ab und begleiten uns zum Spielplatz. Denn allein mit Kleinkind getraue ich mich wegen der Krücken nicht mal vor die Wohnungstür. Manchmal fährt auch jemand mit mir in ein Café, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt.
Wie überstehen wohl alleinerziehende Mütter oder Väter eine solche Situation? Tagelang allein zu Hause mit den Krücken und meiner Tochter, da würde ich verzweifeln! Unser sehr beschränktes Indoorprogramm würde irgendwann nicht mehr ziehen. Ich bin froh um unser gut eingespieltes Netzwerk. Und merke, wie sehr es fehlt, als gleichzeitig die Kita Betriebsferien hat und die näher wohnenden Grosseltern im Urlaub sind.
Hilfe annehmen? Kein Problem! Dachte ich zumindest.
Doch aktiv um Hilfe zu bitten, fällt mir manchmal echt schwer. Plötzlich fühle ich mich durch die Krücken von anderen abhängig und bedürftig. Dabei unterstützen die meisten gern. Mehrere Pensionierte sagen «Ich hätte ihnen also schon geholfen», als mir der Mitarbeiter eines Migros-Restaurants den Kaffee zur Kasse und zum Tisch trägt.
Plötzlich fallen mir überall Hürden auf: Wenn es nur Treppen und keinen Lift gibt – oder er schlecht zugänglich ist, die Trottoir-Ränder mühsam hoch sind oder das Lichtsignal schnell wechselt. Neben Rollstuhlfahrer:innen würden weitere Personen von mehr Barrierefreiheit profitieren: Eltern mit Kinderwagen, temporär Eingeschränkte wie ich gerade, aber auch ältere Leute mit oder ohne Rollator.
So anstrengend die Zeit war:
Die Krücken waren auch ein Augenöffner.
Heute geniesse ich es sehr, dass ich Tage einfach mal wieder nach meinem Geschmack einteilen und mit meiner Tochter so selbstbestimmt Zeit verbringen kann wie davor. Dass das nicht selbstverständlich ist, das haben mir diese sechs Wochen deutlich gezeigt.
Full Disclosure: Bei den Links zum Roten Kreuz handelt es sich um bezahlte Werbung.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 14. Oktober 2020 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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