Lino im Arm, Ennio im Herzen
Barbaras erstes Kind Ennio kam still zur Welt – ein Verlust, der sie tief geprägt hat. Trotz Angst wagt sie einen erneuten Versuch, sich ihren Kinderwunsch mit Hilfe einer Samenspende zu erfüllen. Und dieses Mal geht alles gut.

Mir war immer klar, dass ich nicht aufgeben würde. Ein Kind war schon immer mein Herzenswunsch, und Ennios Tod (hier die berührende Geschichte lesen) hat nichts daran geändert. Umso grösser war meine Freude, als ich im Herbst 2024 wieder mit einer Samenspende schwanger war. Zuerst jeden Tag und danach jede Woche fühlte sich an wie ein Meilenstein, und auch wenn ich mich sehr auf das Baby freute – ich hatte doch immer wieder grosse Angst, dass es sich wie sein Brüderchen verabschieden würde.
Mir war sehr bewusst, dass ich rasch lernen muss, wieder Vertrauen ins Leben zu haben.
Aber Lino blieb. Und ich fand mich in meiner Angst zurecht. Es ist paradox, aber eigentlich war ich über meine zeitweise starke Übelkeit und das wochenlange tägliche Erbrechen froh – so hatte ich immer wieder Bestätigung, dass mit der Schwangerschaft alles okay ist. Auch sprach ich mir und ihm immer wieder gut zu. Mir war zudem sehr bewusst, dass ich rasch lernen muss, wieder Vertrauen ins Leben zu haben. Denn nach der Geburt würden die Ängste nicht kleiner und eine «Helikoptermama» wollte und will ich nicht werden.
So sicher wie möglich
Ich traf alle Vorbereitungen für eine selbstbestimmte Geburt. Mir war wichtig, dass es ein geplanter Kaiserschnitt wird – ich wollte so sicher wie möglich sein, dass ich am Ende ein lebendes Kind in den Armen halten kann. Zudem war für mich die Vorstellung unaushaltbar, dass während der spontanen Geburt die Herztöne absacken könnten. Meine Frauenärztin, die bereits bei Ennio an meiner Seite gewesen war, unterstützte mich voll bezüglich meines Wunsches nach einem geplanten Kaiserschnitt.
Ich hatte während der Schwangerschaft eine engmaschige Betreuung, besuchte sie und einen Pränatal-Experten im Inselspital regelmässig. Wir setzten den 18. Juni als Termin, meine Ärztin würde den Kaiserschnitt durchführen und meine Mutter als Begleitung im Operationssaal dabei sein. Ich freute mich wahnsinnig auf Lino – und er sich wohl auch auf die Welt, er kam nämlich um einiges früher als geplant, insgesamt gut vier Wochen zu früh, aber purlimunter und gesund.
Am 2. Juni war ich gegen Abend noch bei der Frauenärztin zur geplanten Kontrolle. Sie machte einen Ultraschall, alles sah tiptop aus. Ich hatte bereits kleine Kontraktionen, die wir als Übungswehen abtaten, gegen Ende der Schwangerschaft hatte ich die immer mal wieder. Bereits auf dem Nachhauseweg wurden die Kontraktionen aber immer stärker und regelmässiger. Noch realisierte ich aber nicht, dass es sich bereits um Wehen handelte.
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Zu Hause stieg ich in die Dusche – und die Wehen wurden immer heftiger. Erst als ich mir die Abstände notierte, wurde mir klar, dass es sich um Wehen handeln muss. Ich glaube, du kommst heute, sagte ich zum Baby, und rief im Spital an. Die waren zwar erstaunt, aber meinten, ich solle vorbeikommen. Also nahm ich den bereits vorgepackten Koffer, gab meinen Eltern Bescheid und rief ein Taxi.
Im Spital waren alle entspannt, niemand ging davon aus, dass es gleich soweit sein würde. Man machte ein CTG, was nicht ganz einfach war, ich hatte nämlich bereits grosse Schmerzen. Als ich mich dann auch noch erbrach und immer wieder betonte, dass die Wehen in vollem Gange seien, untersuchten sie meinen Muttermund und stellten fest, dass der bereits sechs bis sieben Zentimeter offen war. Und ab da ging dann alles sehr schnell.
Diesen Moment werde ich nie vergessen: Mein rosiges, lebendes, atmendes Baby zu sehen.
Ich hatte bereits im Vorfeld alles für den geplanten Kaiserschnitt in die Wege geleitet und war froh, dass sie mich nicht vor eine Wahl stellten. Sie sagten einfach: In zwanzig Minuten ist der Operationssaal bereit für euch. Meine Eltern kamen zum Glück rechtzeitig im Spital an. Meine Mutter zog sich einen Kittel über, und blieb von da an bei mir, mein Vater wartete auf der Geburtenabteilung auf uns. Dann wurden wir in den Ops gefahren, und kurze Zeit später hoben sie Lino heraus. Diesen Moment werde ich nie vergessen: Mein rosiges, lebendes, atmendes Baby zu sehen.
Die Angst kommt zurück
Sie versicherten mir, dass alles okay mit ihm sei, und meine Mutter beschrieb mir genau, was sie mit ihm machten, bis sie ihn mir brachten und in ein Schlauchtuch an meine Brust legten. Ich weiss noch genau, wie wunderschön das war – gleichzeitig kam aber auch die Angst zurück: Ich musste mich immer wieder vergewissern, dass er atmete.
In den ersten zwei Nächten machte ich kein Auge zu – zu gross war die Freude, und zu gross der Stress. Ich lauschte immer wieder seinen Atemzügen. Schaute ihn an, spürte ihn auf mir, habe mit ihm geplaudert. Das war unbeschreiblich schön. Wahrscheinlich der schönste und innigste Moment meines Lebens.

Noch am gleichen Abend kamen meine Schwester und mein Schwager vorbei, um Lino zu begrüssen. Meine Schwester ist nun das Gotti von meinen beiden Söhnen, von Lino und von Ennio. Das finde ich unglaublich schön. Sehr berührend und irgendwie magisch war auch, dass jene Hebamme, die damals den Tod von Ennio festgestellt hat und mich am Tag seiner Geburt betreut hat, an diesem Abend Dienst hatte und kurz nach Linos Geburt bei uns im Zimmer vorbeigekommen ist. Damals, nach Ennios Tod, hatte ich ihr gesagt: Wir sehen uns wieder, wenn ich mit einem lebendigen Baby hier bin.
Zum Glück ging es Lino trotz der frühen Geburt sehr gut und wir durften bald zusammen nach Hause, wo meine Mutter die ersten drei Nächte bei mir blieb. Damit er gut zunahm, mussten wir einen Wecker stellen und Lino alle drei Stunden schöppelen. Parallel dazu pumpte ich ab, weil er zu schwach war und Schwierigkeiten hatte, an der Brust zu trinken.
Ich hatte solche Angst, dass er wieder geht.
Im Nachhinein war das glaube ich die emotional herausforderndste Zeit für mich: Die Angst vor dem plötzlichen Kindstod war allgegenwärtig, ich spürte sie mit jeder Faser meines Körpers. Und ich konnte nicht stillen – was mich noch hilfloser gegenüber meinen Ängsten machte. Meine Hebamme hatte mir gesagt, dass Stillen das Risiko eines plötzlichen Kindstodes um ein Vielfaches minimiert, also wusste ich: Ich muss es hinkriegen. Was natürlich auch Stress auslöste. Ich hatte solche Angst, dass er wieder geht.
Aber Lino ging nicht. Er wuchs mit jedem Tag und nach kurzer Zeit hatten wir glücklicherweise auch das Stillen raus. Mit jedem Mal wo ich ihn an die Brust setzte, sah ich die Prozentrate der Gefahr eines plötzlichen Kindstodes sinken. Relativ bald, wohl auch aus Erschöpfung, schlief ich gut neben ihm und schreckte nicht mehr jede Nacht mehrmals hoch, weil ich dachte, er würde nicht mehr atmen.
Mit dem Schicksal Frieden schliessen?
Im Moment schläft Lino noch neben mir in meinem Bett. Nebenan ist das Kinderzimmer mit Ennios Urne. Ich habe mir oft vorgestellt, wie das sein wird: Wenn ich mit dem Baby zu Ennio ins Zimmer laufe und sie einander vorstelle. Ich dachte, es würde sich dann irgendwie runder anfühlen, so, als könnte ich mit meinem Schicksal Frieden schliessen.
Aber im ersten Moment war es ganz anders. Die Trauer um Ennio traf mich nochmal mit aller Wucht. Ich stand im Kinderzimmer, mein lebendes Baby auf dem Arm, mein totes vor mir, und sofort liefen mir die Tränen übers Gesicht. Der Moment, von dem ich mir gedacht habe, es würde ein freudiger sein, freudig und zuversichtlich, war schmerzerfüllt.
Man schliesst nicht einfach ab, man lässt nicht einfach hinter sich. Trauer kommt in Wellen und sie verändert sich.
Es ist eigenartig, diese beiden Gefühle in sich zu haben: Die immense Freude und Dankbarkeit über ein Neugeborenes und die unendliche Trauer über ein Verstorbenes. Je länger ich beide Emotionen in mir trage, desto bewusster wird mir, dass es stimmt, was man sagt: Trauer ist nicht linear. Man schliesst nicht einfach ab, man lässt nicht einfach hinter sich. Trauer kommt in Wellen und sie verändert sich. Einmal ist sie stark und schmerzhaft, ein andermal ruhig und bittersüss, etwa wenn ich Züge von Ennio in Lino entdecke. Wenn er die Augen geschlossen hat, anders kenne ich Ennio ja nicht.
Das schlechte Gewissen
Bevor Lino da war, habe ich jeden Tag mit Ennio geredet. Ihn begrüsst, ihm gute Nacht gesagt. In letzter Zeit ging das oft etwas vergessen, und mich plagt das schlechte Gewissen. Lebende ältere Geschwister können diesen Platz einfordern, Ennio kann das nicht. Also liegt es an mir, ihm diesen Platz zu geben.
Ich merke, wie ich da auch einfach lieb zu mir sein muss. Umsichtig, geduldig. Ich gebe mein Bestes, so, wie ich das als Mutter eben kann. Das stimmt mich auch immer mal wieder traurig: Dass ich keinen Partner habe, mit dem ich diese Gefühle und Herausforderungen, und auch das Glück und die schönen Momente mit Lino teilen kann.
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Dass ich Lino (zumindest im Moment) keinen Vater beziehungsweise jemanden mit einer Vaterrolle bieten kann und in der Geburtsurkunde der Platz mit den Angaben zum Vater leer blieb. Das nagt zeitweise an mir. Ich komme gut zurecht, bin sehr glücklich und habe ein wundervolles Umfeld, das mich unterstützt. Aber einen Partner wünsche ich mir nach wie vor. Jemand, der ein bisschen zu mir schaut.
Ein Platz für Ennio
Die Urne von Ennio steht nach wie vor im Kinderzimmer. Noch ist es sein Raum, aber irgendwann wird Lino einziehen. Dann werde ich einen neuen Platz für Ennio suchen müssen. Mir ist absolut klar, dass Lino nicht ewig ein Zimmer mit seinem verstorbenen Bruder teilen soll. Wo wird Ennio danach hinkommen? Welchen Platz wird er einnehmen? Bleibt das schlechte Gewissen? Wie erzähle ich Lino von ihm? Was erzähle ich und wann? Diese Fragen beschäftigen mich, auch wenn Lino jetzt noch ganz klein ist.
Ennio ist tot, aber er ist nicht abwesend. Er besteht weiter, in dieser Urne, im Kinderzimmer, in der Erinnerung.
Was ich weiss: Lino wird immer einen grossen Bruder haben und ich immer einen ersten Sohn. Ennio ist tot, aber er ist nicht abwesend. Er besteht weiter, in dieser Urne, im Kinderzimmer, in der Erinnerung. In unserer kleinen Familie. Auf der Rückseite von Linos Geburtskarte stand: Barbara mit Lino & Ennio im Herzen.
Ennio im Herzen, so tragen wir ihn mit.
Dieser Beitrag wurde von unserer Autorin Naomi Gregoris im Austausch mit Barbara aufgezeichnet.
Barbara hat nach der Geburt von Lino dieses Buch empfohlen bekommen – sie empfiehlt es gerne weiter: «Perfectly Imperfect Family» von Amie Lands.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 13. Oktober 2025
Foto: Anina Feller
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