«Der unerfüllte zweite Kinderwunsch ist ein Tabu»
Nora* hat ein Kind und wünscht sich ein zweites. Dass dieser Wunsch vielleicht nie in Erfüllung gehen wird, damit hat sie nicht gerechnet. Ein Erfahrungsbericht.

Für mich war nicht die Frage, ob mein Mann und ich ein zweites Kind haben werden, sondern wann. Dass ich mich mit diesem «Ob» auseinandersetzen müsste, dass es mich wie ein Schatten verfolgen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Ein Blick zurück
Ich war 35, Single und hatte einen Kinderwunsch. Keine ideale Ausgangslage. Nach Gesprächen mit einer Gynäkologin aus meinem privaten Umfeld entschied ich mich, meine Eizellen einfrieren zu lassen. So würde ich Zeit gewinnen.
Mitten in diesem Prozess – zwischen Gesprächen in der Kinderwunschklinik, gesundheitlichen Abklärungen und Hormonspritzen – lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Ich erzählte ihm von meinem Vorhaben und wir sprachen natürlich auch über Kinder.
Unser Plan hatte einwandfrei funktioniert. Alles schien ganz einfach.
Weil wir unserer Beziehung etwas Zeit geben wollten, setzte ich meinen Plan fort. Ich erinnere mich genau, wie mir eine innere Stimme damals zuflüsterte: «Du wirst diese Eizellen nie brauchen.» Und eine andere warnte: «Die Wahrscheinlichkeit, dass dein Kinderwunsch unerfüllt bleibt, ist hoch.»
Nach rund zwei Jahren Beziehung fühlten wir uns bereit für ein Kind. Fünf Monate später war ich schwanger. Als ich 38 war, kam unser Sohn zur Welt. Unser Plan hatte einwandfrei funktioniert. Alles schien ganz einfach. Meine innere mahnende Stimme verstummte.
Das zweite Kind
Wir beschlossen, unser zweites Kind etwas zu timen. Ich wollte nicht zu früh wieder schwanger werden. Wir warteten, bis unser Sohn ein Jahr alt war, und dann sogar ein paar Monate länger. Ich hatte einen neuen Job begonnen und wollte dort erst etwas ankommen. Wie naiv ich diese Überlegungen heute finde.
Dieser Verlust war eine Enttäuschung, aber gut verkraftbar.
Zunächst schien es, als würde auch beim zweiten Mal alles nach Plan laufen. Ich wurde schneller schwanger als beim ersten Mal. Die Freude währte aber nur kurz. Es war nur eine biochemische Schwangerschaft. Das heisst, es hatte sich zwar eine befruchtete Eizelle in der Gebärmutter eingenistet, sie entwickelte sich aber nicht weiter und ging nach wenigen Wochen ab.
Dieser Verlust war eine Enttäuschung, aber gut verkraftbar. Es passierte alles so früh, dass ich meine Menstruation einfach zwei Tage später bekam als normal. Es fühlte sich also mehr nach einem verschobenen Zyklus an als nach einer abgebrochenen Schwangerschaft.
Eine Welt bricht zusammen
Nur vier Monate später erschien auf dem Schwangerschaftstest erneut ein Streifen. Diesmal spürte ich von Anfang an, dass etwas nicht stimmte. Mich plagten Krämpfe und leichte Blutungen. Es gab zahlreiche Untersuchungen und die Prognosen der Ärzt:innen waren zurückhaltend. Das Baby war zu klein, sein Herzschlag zu sanft. In der achten Woche stand fest: Es ist keine «valide Schwangerschaft». Ich musste sie medikamentös abbrechen. Dabei gab es Komplikationen. Für mich brach eine Welt zusammen.
Ich hatte mich darauf vorbereitet, dass es schwierig werden könnte, überhaupt schwanger zu werden und ein Kind zu bekommen. Ich wusste um mein Alter. Ich kannte gewisse Schicksale aus meinem Umfeld, von Paaren, die lange auf ein Kind warten mussten. Doch all diese Geschichten und Gedanken galten dem ersten Mal, dem ersten Kind. Niemand sprach über Schwierigkeiten beim zweiten.
Bei allen schien es mit dem zweiten Kind zu klappen, bei allen ausser mir.
Im Gegenteil. Immer wieder hörte ich, wie unerwartet schnell oder zu schnell es gegangen war mit der zweiten Schwangerschaft. Und ich konnte es förmlich sehen: Alle um mich herum – von Freundinnen und Bekannten bis zu Kolleginnen und Familien in der Kita – alle bekamen sie ein zweites Kind. Auf Spielplätzen sah ich nur noch vierköpfige Familien. Bei allen schien es mit dem zweiten Kind zu klappen, bei allen ausser mir.
Jetzt klappt es
Ich sprach mit Fruchtbarkeitsärzt:innen und mein Mann und ich dachten darüber nach, die eingefrorenen Eizellen zu nutzen. Nach diversen Untersuchungen starteten wir rund vier Monate nach der Fehlgeburt mit der Fruchtbarkeitsbehandlung. Man sagte mir, meine Eizellen hätten gute Werte, und ich war überzeugt: Jetzt klappt es.
Ein solcher Pausenzyklus ist die Hölle. Nichts als verlorene Zeit.
Wir starteten mit der ersten Runde. Befruchtung der Eizelle und Einsetzen in die Gebärmutter. Es klappte nicht. Ich war nicht schwanger. Meine Trauer und Enttäuschung waren riesig. Nach einer solchen Behandlung muss man einen Zyklus lang pausieren, damit sich der Körper erholen kann. Ein solcher Pausenzyklus ist die Hölle. Nichts als verlorene Zeit.
Wieder keine valide Schwangerschaft
Nach einem weiteren fehlgeschlagenen Versuch musste ich sogar noch einen Zyklus aussetzen, weil meine Hormonwerte nicht ideal waren. Wir beschlossen, in die Ferien zu fahren, und siehe da: Ich wurde auf natürlichem Weg schwanger. Wir freuten uns, allerdings verhaltener als zuvor. Unsere Angst bestätigte sich: Wieder war es keine valide Schwangerschaft. Wieder musste ich sie medikamentös abbrechen. Wieder gab es Komplikationen.
Ich kann das doch. Immerhin hatte mein Körper schon ein Kind zur Welt gebracht. Warum schaffe ich das nicht ein zweites Mal?
Ich fühlte mich wie eine Versagerin, schämte mich für mein vermeintliches Unvermögen. Ja, ich weiss, Kinder bekommen hat nichts mit «Leistung» und «Können» zu tun. Trotzdem kam ich nur schwer gegen diese Gefühle an. Ich kann das doch. Immerhin hatte mein Körper schon ein Kind zur Welt gebracht. «Warum schaffe ich das nicht ein zweites Mal?», fragte ich mich ständig.
Rückzug, Neid, Einsamkeit
Ich zog mich immer mehr zurück. Ich bin eigentlich ein sehr offener und sozialer Mensch und liebe den Austausch mit anderen. Aber plötzlich fehlten mir die Energie und die Lust dazu. Ich ging Freundinnen, die schwanger waren, aus dem Weg, weil ich es nicht ertragen konnte. Ich mied gewisse Gespräche und Anlässe, weil ich auf keinen Fall über das Thema reden wollte.
Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so einsam gefühlt. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde mein Leben irgendwie stillstehen.
Ich verspürte Neid gegenüber anderen Schwangeren und war oft einige Tage down, wenn jemand im Freundeskreis schwanger wurde. Und manchmal holte ich sogar meinen Sohn bewusst früher oder später aus der Kita ab, um bestimmten Eltern nicht zu begegnen.
Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so einsam gefühlt. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde mein Leben irgendwie stillstehen. Ich lebte von Zyklus zu Zyklus, wartete auf Behandlungen und Ergebnisse und fühlte mich dazwischen hilflos und ausgeliefert.
Auseinanderdriften
Mein Mann war immer für mich da, aber unsere Beziehung litt. Zwar hatten wir beide diesen Wunsch nach einem zweiten Kind und ähnliche Vorstellungen davon, wie weit wir gehen wollen. Trotzdem glaube ich, dass dieses zweite Kind für mich wichtiger ist als für ihn.
Wir haben uns glücklicherweise immer wieder gefunden, aber das Erlebte hat an unserer Beziehung genagt.
Er ist rationaler und positiver als ich. Bei ihm ist das Glas eher halb voll und bei mir halb leer. So gab es Phasen, in denen wir auseinanderdrifteten oder ich mich unverstanden fühlte. Wir haben uns glücklicherweise immer wieder gefunden, aber das Erlebte hat an unserer Beziehung genagt.
Zwischen zwei Welten
Und dann war da das schlechte Gewissen gegenüber unserem Sohn. Wir hatten ein Familienleben und das musste und sollte weitergehen. Ich wollte für ihn eine möglichst gute Mutter sein. Er sollte mich nicht dauernd traurig oder niedergeschlagen erleben. Ich lebte wie in zwei Welten: in der realen Welt mit Familie, Kind und Job und in einer Parallelwelt, in der es nur um Zyklen und Wahrscheinlichkeiten ging.
Ich hätte mir gewünscht, mich mit Menschen austauschen zu können, die Ähnliches erleben. Aber irgendwie ist dieses Thema ein Tabu.
Ich hätte mir gewünscht, mich mit Menschen austauschen zu können, die Ähnliches erleben. Aber irgendwie ist dieses Thema ein Tabu. Über den unerfüllten zweiten Kinderwunsch spricht man kaum. Bei uns dachten wohl viele: «Die wollen nur eins». Andere fanden, wir sollten dankbar sein für dieses eine Kind. Was wir natürlich auch sind, aber das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.
Das Thema beschäftigt auch unsere Community:

Wenn es mit dem 2. Kind nicht mehr klappen will. Suche Austausch mit anderen Betroffenen.
Oder stell deine eigene Frage.
Was mir wichtig ist: Ich würde mir nie anmassen, meine Geschichte mit Menschen zu vergleichen, die all das beim ersten Kind durchmachen. Nie und nimmer. Ich kann nur erahnen, wie hart das sein muss. Aber auch beim zweiten Kind schmerzt es, wenn es nicht klappt.
Warten
Durch die Komplikationen beim Abbruch vergingen Wochen und Monate. Obwohl ich spürte, dass ich eigentlich nicht mehr kann, war meine drängendste Frage in der Zeit: «Wann können wir es erneut probieren?»
Nach mehreren Gesprächen mit der Fruchtbarkeitsklinik entschieden wir, alle noch vorhandenen Eizellen zu befruchten und sie genetisch testen zu lassen. Es bestand der Verdacht, dass die Zellen genetische Defekte haben könnten, und dass dies der Grund für die Fehlgeburten ist.
Während wir auf die Ergebnisse warteten, wagten wir noch einen Versuch mit einer ungetesteten Eizelle. Ich konnte einfach nicht wieder so viel Zeit verstreichen lassen. Auch dieser dritte Versuch war erfolglos und das Ergebnis der Tests ernüchternd: Von den fünf befruchteten Eizellen (Blastozysten), die wir noch hatten, war nur eine eindeutig verwendbar. Eine zweite müsste genauer untersucht werden.
Ich kann das nicht mehr. Und ja, vielleicht werde ich mich damit abfinden müssen, dass es nicht klappt.
Das war bitter. Aber auf eine seltsame Art auch erleichternd. Ich spürte seit einiger Zeit, dass das Ganze ein Ende haben muss. Ich kann das nicht mehr. Und ja, vielleicht werde ich mich damit abfinden müssen, dass es nicht klappt. Ich habe jetzt noch diese vierte Runde vor mir und vielleicht noch eine fünfte Chance. Die allerletzte.
Ich kann mir noch nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn alles vorbei ist. Was ich weiss: Ich muss diese Reise abschliessen und Frieden schliessen mit dem, was ich erlebt habe. Vielleicht geschieht dieser Abschluss mit einem zweiten Kind, vielleicht mit unserer wunderbaren Familie zu dritt.
*Nora heisst eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Dieser Beitrag wurde von unserer Autorin Samantha Taylor im Austausch mit Nora aufgezeichnet.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 11. August 2025
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