Kind da, Krise auch: postpartale Depression
Babyblues und Heultage sind normal. Aber 15-20 Prozent der Mütter leiden nach der Geburt unter schweren und anhaltenden Symptomen. Drei Erfahrungsberichte.

Wenn auf dem Schwangerschaftstest zwei Striche auftauchen, macht es in vielen Köpfen PUFF. Glitzerstaub fliegt durchs Gehirn, tausend Ideen funkeln herum. All die Vorstellungen, was nun kommen wird – meistens etwas idyllischer als in der Realität.
Dann ist das Baby da. Und bei einigen Müttern ist der Glitzerstaub fort, wabert stattdessen ein düsterer, zäher Nebel durch den Kopf.
Babyblues und Heultage kennen alle. Stimmungstiefs nach der Geburt sind ganz normal.
Aber wenn die Symptome stärker werden und andauern, dann spricht man von einer postpartalen (oder postnatalen) Depression. So eine schwerwiegende Krise trifft 15-20 Prozent der Mütter und übrigens auch rund 10 Prozent der Väter – zäggbumm, oft ohne Vorwarnung.
Drei Frauen haben mit mir über ihre schwierige Phase in einer ohnehin schon verdammt anstrengenden Zeit gesprochen. Alle drei möchten anonym bleiben. Nicht deshalb, weil sie sich dafür schämen, was ihnen passiert ist, denn dafür kann niemand was. Aber alle drei arbeiten in einem Berufsumfeld, wo solche privaten Informationen ungünstig sind.
Information
Hilfe für Betroffene und Angehörige
Auf der Webseite des Vereins Postpartale Depression Schweiz findest du viele Informationen, Hilfestellen sowie einen Selbsttest.
Antonia: Der Wunsch nach Abstand vom Kind
Na gut, dann halt nicht. Antonia hatte sich nach langem Hadern damit abgefunden, dass sich ihr Baby im Bauch nicht mehr in die richtige Geburtsposition begeben würde. Sie hatte so viel probiert, um das Mädchen zum Umdrehen zu bewegen, aber letztlich hiess es dann doch: Kaiserschnitt.
Antonia war enttäuscht, sie hätte gerne eine Spontangeburt gehabt. Aber, wie viele Mütter wissen: Manchmal geht es nicht anders. Und für alle, die es noch nicht wissen: Ein Kaiserschnitt ist nicht die Easy-Variante einer Entbindung.
Nun war Elena da.
Aber neben den üblichen postoperativen Schmerzen streikte bei Antonia nach der Geburt der Körper: Sie kotzte zwei Tage lang durch. (Nein, nicht erbrechen, das klingt zu angenehm.)
Wie soll man sich in so einer Situation um ein kleines Geschöpf kümmern? Unmöglich.
Zum Glück konnte Antonia ihre Tochter teilweise in die Obhut der Stationsschwestern geben, um sich ein wenig zu erholen. Und zum Glück hat sie einen unglaublich tollen Mann an ihrer Seite.
Mirko nahm ihr daheim so viel ab wie nur möglich: Er erledigte den Haushalt, kümmerte sich intensiv um Elena, die viel weinte oder schrie und ganz viel Körpernähe brauchte. So richtig zufrieden war die Kleine anfangs nur in der Tragehilfe.
Für Antonia war das manchmal erdrückend. Da gab es nun dieses Wesen, dass sie noch nicht so gut verstand, dessen Bedürfnisse und Vorlieben sie erst kennenlernen musste – eine Situation, die alle Eltern anfangs überfordert.
Und dann war da noch ein ungutes Gefühl.
Dieser Wunsch nach Abstand vom Kind, neben aller Dankbarkeit und Liebe, dieses schwer fassbare innere Ungleichgewicht, und eine grosse Erschöpfung.
Antonia war bewusst, dass sie irgendwie anders empfand als andere Mütter. Sie nervte sich ab allen, die den Glitzerglanz zelebrierten, wie sie es nannte: Die in den sozialen Medien schwärmten von der beglückenden und einzigartigen Zeit mit einem Neugeborenen, die herzige Bildchen von Strampelfüsschen und Babyköpfchen posteten, gefolgt von tausend überschwänglichen Emoticons.
Wir alle wissen, dass solche Posts nicht die Realität spiegeln, dass es daheim auch Tränen, Chaos und Paarzoff gibt. Aber Antonia konnte nicht darüber hinwegsehen. Die Diskrepanz zwischen ihrer Empfindung und den Äusserungen von andern war zu gross.
Sie schämte sich für ihre Gefühle und fühlte sich als Versagerin.
Sie hielt sich künftig von den Glitzerglanz-Herausposaunerinnen fern, in der virtuellen und realen Welt. Und sie entschied, nicht danach zu handeln wie es vielleicht von aussen von einer Mutter erwartet wird, sondern ihren eigenen Weg zu gehen, die persönlichen Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Gelegentlich übernachtete sie bei ihrer Mutter, überliess Mirko allein die Nachtschicht mit Elena. Oder sie gab Elena ihrer Mutter zum Hüten und machte sich ein paar schöne Stunden, allein, mit Mirko oder mit Freundinnen.
Sie tat das, was wohl so mancher Mutter wohltäte: Zeit für sich einfordern. Dass Mirko sie in all dem voll unterstützte und nie auch nur den leisesten Vorwurf äusserte, rechnet sie ihm hoch an. Im Nachhinein gestand er allerdings, dass er mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte, für Antonia psychologische Hilfe zu suchen.
Genau das wollte sie nicht.
Antonia wollte das allein bewältigen. Und schaffte es tatsächlich. Nach und nach fand sie sich im Alltag als Mutter zurecht. Hatte nicht mehr so oft das beklemmende Gefühl totaler Überlastung. Die Liebe zu Elena, die zwar immer existent, aber einfach noch nicht von Anfang an unerschütterlich stark war, wuchs von Tag zu Tag.
Elena ist ein Jahr alt. Antonia nimmt sie in den Arm und lächelt wieder so warmherzig und weltoffen wie früher. Und findet den Gedanken an ein zweites Kind nicht mehr derart unmöglich wie noch vor wenigen Monaten.
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Eveline: Wut statt Liebe
Oft heisst es ja, Schwangere würden einen Glow besitzen, ein besonderes Strahlen. Naja, viele werdende Mütter fühlen sich nicht so blendend, haben unreine Haut, Wassereinlagerungen oder tiefe Augenringe.
Aber Eveline sah aus wie Miss Glow höchstpersönlich. Während der gesamten Schwangerschaft fühlte sie sich wundervoll, war optimistisch und voller Vorfreude. Die Geburt verlief für eine Erstgebärende erstaunlich zügig und war gemäss Eveline nicht so schlimm wie erwartet. Der kleine Julian dockte gut an die Brust an, entwickelte sich in den ersten Tagen prima.
«Alles supidupitrallala», schrieb sie in einer SMS.
Daheim war Eveline dann permanent müde und erschöpft. Und dachte sich nichts dabei, das Leben als Mutter ist anfangs extrem streng, hatten Freundinnen gewarnt. Oft flossen Tränen.
Manchmal sass sie mitten in der Nacht im Bett, Julian trank an ihrer Brust und sie konnte kaum mehr atmen vor lauter Weinkrämpfen.
Sie schlief schlecht, hatte unerklärliche Todesängste, ständig Alpträume und fühlte sich morgens so kaputt, dass das Aufstehen eine Qual war.
Kopfschmerzen und Schwindel begleiteten sie durch die Tage, gelegentlich auch Herzrasen und Schweissausbrüche. Duschen und Zähneputzen mochte sie manchmal tagelang nicht, viel zu wenig Energie.
Wenn ihr Partner Philippe ihr mal ein Enspannungsbad einliess, blieb sie sitzen, bis das Wasser kalt war und schaffte es einfach nicht, auszusteigen.
Mehrmals täglich war sie stinkwütend – auf Julian, weil sie seine Laute nicht deuten konnte, auf die eigenen Unfähigkeit, mit schwierigen Situationen gelassen umzugehen, auf Philippe, weil er ihrer Meinung nach beim Trösten nicht die richtigen Worte fand und sie seine Entlastungsversuche irgendwie nervig fand.
So viel Erschöpfung, so viel Wut.
Die Hebamme, die eigentlich nur in den ersten Tagen für Eveline zuständig gewesen wäre, verlängerte ihr Engagement quasi eigenmächtig: Sie teilte Eveline mit, dass sie noch ein bisschen länger Unterstützung bieten möchte. Und nach zwei weiteren Wochen redete sie mit Eveline und Philippe Klartext: Das sei keine normale Wochenbettkrise, keine gewöhnliche postnatale Erschöpfung, sondern eine Depression. Eveline verneinte vehement.
«Depressiv? Ich doch nicht!»
In einem plötzlichen Energieanfall sprang sie auf und wies die Hebamme vor die Tür. Aber Philippe hatte endlich eine Erklärung für das Verhalten seiner Freundin. Er googelte wie wild, telefonierte mit der Hebamme und mit Evelines Frauenärztin.
Ihm war klar: Er konnte Eveline nicht aus der Krise heraushelfen.
Er sorgte dafür, dass seine Eltern ein Wochenende auf Julian aufpassen und lud Eveline zu einem Paarweekend ein. Sie freute sich, wollte aber eigentlich gar nicht weg von ihrem Baby.
Denn obwohl sie es manchmal in Gedanken an die Wand klatschte oder sich wünschte, sich für ein Leben ohne Kind entschieden zu haben: Irgendwie hatte sie dieses Geschöpf ja doch gern. Oder, wie sie im Nachhinein sagte:
Sie fühlte sich für Julian verantwortlich – so stark, dass es sie fast erdrückte.
Sie glaubte, ihre Empfindung sei halt diese vielzitierte Mutterliebe.
Eveline und Philippe genossen die Zweisamkeit in den Bergen. Am Sonntag machten sie eine Wanderung. Und auf einer idyllischen Waldlichtung, ringsum nur Natur und keine Zuhörer, wurde Philippe deutlich. Er konfrontierte Eveline mit seinem gesammelten Wissen – und mit seinem dringenden Wunsch, dass sie zu einer Fachperson gehe.
Sie tobte und schrie. Aber Philippe blieb bei seiner Meinung. Er hatte Angst um seine Freundin, und auch um ihr Baby.
Irgendwann begann er zu weinen, hemmungslos. Da gab sie widerwillig nach.
Eveline war monatelang böse auf Philippe. Auch dann noch, als sie langsam spürte, dass die Therapie bei einer Psychologin half. Medikamente lehnte sie ab, aber die Gespräche mit einer externen Person bezeichnet sie heute als unverzichtbar.
Als Julian acht Monate alt war, spürte Eveline zunehmend etwas in sich aufkeimen: Mutterliebe. Das beklemmende Verantwortungsgefühl war einer schier unfassbaren Hingabe gewichen. Und einer Zuversicht im Hinblick auf die Zukunft. Eveline strahlte wieder.
Nun hat Julian schon zwei Geschwister. Bei beiden weiteren Schwangerschaften hatte Eveline irrsinnige Angst, wieder in eine postnatale Depression zu verfallen, beide Male ging sie direkt nach der Geburt in Selbsthilfegruppen, suchte den Austausch. Aber abgesehen von den üblichen Anstrengungen einer Dreifachmama ist tatsächlich alles einigermassen supidupitrallala.
Yvette: Das quälende Warten auf Gefühle
Sie sah an sich hinunter, auf das Wesen, dass da auf ihrem Bauch lag. Bonding, aha, so geht das also. Sofort nach der Entbindung hatte man ihr Milena auf den nackten Oberkörper gelegt. Yvette war total kaputt und erleichtert, dass die Geburt endlich vorüber war.
Mehr fühlte sie nicht. Naja, das kommt dann schon noch, nach ein paar Stunden Erholung, dachte sie.
Es folgten Tage im Spital mit viel Programm. Besuch von Familienmitgliedern, freudestrahlende Gesichter und Begeisterungsworte beim Anblick des Babys. Mühsame Stillversuche, die sie bald zermürbt aufgab. Und viel Zeit mit diesem kleinen Ding, für das sich Yvette irgendwie nicht so begeistern konnte wie alle rundum.
Die Gefühle kommen schon noch, dachte sie wieder. Und mimte nach aussen die glückselige Mama.
Es folgten zehn quälende Monate.
Immer noch dieses Gefühl der Unzulänglichkeit und kompletten Überforderung, immer noch ohne positive Gefühle gegenüber ihrem Kind. Da setzte sich Yvette an den Laptop, googelte nach typischen Symptomen für eine postpartale Depression. Und fand sich in ganz vielen Erfahrungsberichten wieder.
Am nächsten Tag rief sie ihre Ärztin an und fragte nach einem freien Platz in einer Mutter-Kind-Klinik. Schon eine Woche später konnte sie einrücken.
Sie weihte ihren Mann Gustav ein; er fiel aus allen Wolken. Yvette hatte zwar immer wieder angedeutet, dass sie sich total ausgelaugt fühle, woraufhin Gustav eine Haushaltshilfe engagiert und sein Arbeitspensum drastisch reduziert hatte. Er wollte einer dieser neuen Väter sein, die wirklich auch zurückstecken, wenn es nötig ist.
Ihre fehlenden Emotionen hatte Yvette ihrem Mann zuvor verschwiegen. Aus Scham.
Auch in der Klinik brauchte sie Wochen, um von der monatelang antrainierten Schauspielerei Abstand zu nehmen und ihre wahren Empfindungen laut auszusprechen.
Fünf Wochen Klinikaufenthalt, Medikamente, eine Therapie, viel Verständnis und Unterstützung von Gustav und ihrem Umfeld waren nötig. Nach zwei intensiven Jahren mit einigen Ups und Downs bezeichnet sich Yvette heute als glückliche Mama.
Jetzt sieht sie manchmal beim Spazieren herunter auf das Wesen, das ihre Hand hält. Und findet keine Worte für ihre überschäumenden Emotionen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 3. Dezember 2017 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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